Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
fuhren davon. Das Letzte, was Nora im Rückspiegel sah, war das gelbe Warnschild.
Betreten auf eigene Gefahr.
*
Mittags, kurz vor zwölf Uhr, öffnete Martin Kanther den Abfalleimer in seiner Küche, zog den Müllbeutel heraus, verschnürte ihn und brachte ihn zur Wohnungstür. Die Glassplitter des zerschmetterten Spiegels klirrten leise im Inneren. Kanther behandelte seine Fracht wie ein rohes Ei, damit die scharfen Kanten keine Löcher in die Hülle rissen und ihm der Müll vor die Füße fiel. Er trug den Sack durch das Treppenhaus drei Stockwerke nach unten, betrat durch die Hintertür den Hof, öffnete eine der dunkelgrauen Tonnen und ließ den Müllbeutel unter lautem Scheppern hineinfallen.
Als er den Deckel zuklappte und sich umdrehte, stand das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen und dem rosa Trägerkleid vor ihm. Sie hielt ein Springseil in den Händen und sah ihn aus großen Augen an.
»Hallo«, sagte Kanther.
»Hallo«, sagte das Mädchen. »Wie heißt du?«
»Martin. Und du?«
»Luzie.«
»Luzie, der Schrecken der Straße?«
Das Mädchen sah Kanther ratlos an.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Luzie.«
»Musst du nicht arbeiten, Martin?«
»Ich arbeite zu Hause.«
»Echt? Was arbeitest du denn?«
»Ich bin Schriftsteller.«
Noch mehr Ratlosigkeit.
»Ich schreibe Bücher.«
Luzies Gesicht hellte sich auf. »Kinderbücher?«
Kanther schüttelte bedauernd den Kopf.
»Was denn für Bücher?«
Kanther nahm die Brille ab. Was antwortete man einem Kind in so einer Situation am besten?
Über ihnen ging ein Fenster auf. »Luzie? Kommst du rauf? Das Essen ist fertig.«
Kanther sah nach oben. »Hallo. Martin Kanther aus dem dritten Stock.«
Die Frau, die aus dem Fenster sah, hatte die gleichen blonden Haare wie ihre Tochter. Sie lachte. »Ja ich weiß. Sie sind eine Berühmtheit. Ich hoffe, Luzie geht Ihnen nicht auf die Nerven.«
»Nein, gar nicht«, wehrte Kanther ab. »Sie haben wirklich eine nette Tochter. Passen Sie gut auf sie auf.«
Das folgsame Mädchen stand bereits in der Tür zum Treppenhaus. »Tschüss, Martin.«
Kanther winkte der Kleinen zu und sie verschwand im Hausgang. Er hörte ein leises Klappern, als sie die Treppenstufen hinaufeilte. Er verspürte einen stechenden Schmerz im Gesicht und strich mit dem Finger über die Narbe auf seiner Wange. Der Schmerz verging.
Kinderbücher? Warum eigentlich nicht?, dachte er. Dann ging er zurück in seine Wohnung und packte ein paar Sachen in seine braune Ledertasche. Er würde etwas essen gehen – im Solzer vielleicht, einer traditionsreichen Apfelweinwirtschaft ein Stück die Berger Straße hinauf, in die sich kaum je ein Tourist verirrte. Oder nein: Er würde einen Ausflug in den Günthersburgpark machen. Er würde bei Giannis einen doppelten Espresso bestellen und eine Kleinigkeit essen. Er würde sich an einem der wackligen Gartentische von der Sonne bescheinen lassen und sich Notizen machen. Falls ein Afrikaner mit einem Strauß Rosen vorbeikäme, würde er eine kaufen und sie der blonden Studentin schenken, sofern sie wieder hinter dem Tresen stand.
Nein, das war kitschig. So etwas konnte sich nur ein Schriftsteller ausdenken, überlegte Kanther. Aber es würde trotzdem ein schöner Tag werden.
Epilog
Paul Krüger, der ›Erbe‹ des Drachentöters, starb drei Tage nach seiner Festnahme auf der Intensivstation der Frankfurter Universitätsklinik an seinen schweren Kopfverletzungen. Er wurde auf dem Hauptfriedhof seiner Geburtsstadt Hanau bestattet, ganz in der Nähe des Altenstifts, in dem seine Mutter lebt.
Siegfried Bär wurde aufgrund eines DNA-Abgleichs angeklagt und der bundesweiten Prostituiertenmorde Ende der Achtzigerjahre für schuldig befunden. Die achte Strafkammer des Landgerichts Frankfurt verurteilte ihn wegen vierfa chen Mordes und Körperverletzung mit Todesfolge zu lebens- langem Freiheitsentzug, unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld mit anschließender Sicherungsverwahrung. Bär leistet seine Haftstrafe in der nordhessischen JVA Schwalmstadt ab.
Gisbert Grauvogel wurde noch im selben Jahr wegen Vorteilsannahme gemäß Paragraf 331 StGB vom Polizeidienst suspendiert und zu einer Geldstrafe von dreitausend Euro verurteilt. Er arbeitet heute bei einem privaten Sicherheitsdienst.
Agniezka Anghels Abschiebung konnte verhindert werden. Sie lebt heute dauerhaft bei einer Pflegefamilie in Aschaffenburg.
Dank
Bei den folgenden Personen möchte ich mich herzlich für
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