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Toedliche Hoffnung

Toedliche Hoffnung

Titel: Toedliche Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tove Alsterdal
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alles. Damit haben sie nicht gerechnet. Haha.« Sie stellte die Flasche auf den Boden. »Er war gut im Dokumentieren, mein Micha.«
    »Hatte er die Dokumente dabei, als er Patrick treffen wollte?«, fragte ich noch einmal.
    »Natürlich hatte er.« Vera Jetjenkova sah mich an, als wäre ich minderbemittelt. »Der Journalist sollte die Papiere bekommen und wir die Tickets, um von hier wegfliegen zu können.« Sie wedelte mit den Händen, um das Letztgesagte zu unterstreichen. Dann ließ sie sich gegen die Rückenlehne fallen. »Und jetzt muss ich alleine fahren. Glauben Sie an das Schicksal?«
    »Die Polizei hat nichts von Dokumenten erwähnt«, sagte ich. »Seine Mörder müssen sie genommen haben, es sei denn ...«
    Ich verstummte mitten im Gedanken und sah wieder nach draußen. Irgendwo unten in der Gasse hörte ich einen klagenden Gesang. Es klang, als wollte jemand sein Herz durch die Kehle pressen.
    Es sei denn, Jetjenko weigerte sich, die Papiere loszulassen, dachte ich und sah alles in Zeitlupe vor mir, den Mann, der durch die Luft segelte und noch im Tod die Dokumente an seine Brust drückte. Und in den Sekunden danach war Patrick die Treppe hinuntergerannt,zu der Leiche. Er könnte die Dokumente genommen haben, er war von seiner Geschichte besessen. Besessen genug, um Papiere aus der Hand eines toten Mannes zu reißen?
    Jedenfalls war er anschließend gerannt, dachte ich und schaute auf den kleinen Platz hinab, wo sich die Gasse verbreiterte und nach fünfzehn Metern in eine weitere Treppe mündete. Dann machte sie einen Knick, verschwand aus dem Blickfeld und verzweigte sich mit den tausend anderen Gassen am Hang. Die nicht einmal auf der Karte verzeichnet waren, das hatte der Polizist gesagt.
    Sie mussten ihm gefolgt sein.
    Faire d’une pierre deux coups.
    Aber Patrick hatte sie überlistet, sich die Dokumente geschnappt und war geflohen.
    »Die Polizei hat angerufen«, sagte Vera Jetjenkova. »Sie sagen, dass ich meinen Micha jetzt beerdigen kann.« Sie legte ihre Hand auf die Brust. »Sechsunddreißig Jahre! Und dann wollen sie, dass ich ihn hier, in dieser fremden Erde begrabe?«
    Erde ist Erde, dachte ich.
    Und dann der nächste Gedanke: Ein Mensch kann nicht verschwinden.
    Wenn sie Patrick hier in den Gassen umgebracht hätten, dann hätte die Polizei seine Leiche gefunden.
    Ich ging zu meiner Tasche, die auf dem Stuhl lag.
    »Patrick ist geflohen, nachdem Ihr Mann ... er muss hier entlanggerannt sein«, sagte ich und zeigte ihr das Foto. »Haben Sie ihn gesehen? Oder sogar hereingelassen?«
    »Wovon sprechen Sie? Hierher kommt niemand.« Vera Jetjenkova beugte sich vor und betrachtete blinzelnd das Foto von Patrick. Dann brach sie in heiseres Gelächter aus.
    »Sind Sie etwa mit einem Bimbo verheiratet?« Der Inhalt des Glases schwappte in ihrer Hand.
    Ich biss die Zähne zusammen und steckte das Foto wieder ein.
    Immerhin hatte ihre Verwunderung echt gewirkt. Hier war er nicht gewesen.
    »Ich will mein Ticket«, sagte Vera Jetjenkova. »Ich muss von hier weg.« Die letzten Sonnenstrahlen ließen einen sündhaft teuren Stein an ihrem Finger aufblitzen, als sie die Hand mit ihrem Glas drehte. Sie betrachtete es, als bemerke sie erst jetzt, was sie eigentlich trank. Zehnjähriger Tawny stand auf der Flasche. Abgesehen davon, dass man sie eigentlich aus kleineren Gläsern konsumierte, wusste ich nichts über Süßweine.
    »Erst stirbt Anna, dann Micha. Ich werde nie wieder nach Hause zurückkehren.«
    »Anna, war das seine Patentochter?«
    Vera Jetjenkova stand auf und stellte sich neben das Fenster. Sie drückte sich an die Wand. Damit man sie nicht sehen konnte, dachte ich.
    »Unsere Patentochter«, sagte sie und schloss die Augen. Draußen stieg der Gesang wie eine Welle zwischen den Häusern auf und ebbte ab. Es war eine Frauenstimme, die den Abend in ihren Blues hüllte.
    »Hören Sie nur«, sagte sie. »Das ist die Musik der Nacht, der Fado. Sie singen von allem, was sie verloren haben.« Sie ließ ihre Finger im Takt der Melodie flattern, Töne in Moll, die sich ineinander rankten. »Es ist die Musik der freigelassenen Sklaven, der Betrüger und Huren in den Gassen, sie spricht zu meiner russischen Seele. Micha war da anderer Meinung. Solch ein Jammergesang, sagte er immer. Sie sagen, der Fado habe seine Melodien von den Meereswellen übernommen, hören Sie?« Sie schwang ihren Schal im Takt, vor und zurück, ihr enormer Busen schaukelte. »Es bedeutet Schicksal, wissen Sie. Das Schicksal, das

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