Toedliche Hoffnung
Gefühl, mitten in der Welt zu sein. Ich saß am Computer hinter der Rezeption und klickte zwischen den Artikeln hin und her. Sie hatten hart gearbeitet.
Es gab Zahlen über die weltweite Sklaverei, Kommentare von Organisationen, die sich zu diesem Thema engagierten, Reihen von Beispielen für moderne Formen der Ausbeutung, einen Artikel über den Hotelbrand des Royal in Paris, eine Karte über die Wege der Immigration ...
Es war alles erwähnt – und doch nicht.
Man konnte nachlesen, dass Patrick mit der Hypothese gearbeitet hatte, dass legale Unternehmen als Deckmantel für eine umfassende Vermittlung billiger Arbeitskräfte dienten, unter anderem für die Baubranche, die Reinigungsindustrie und die Landwirtschaft in Westeuropa.
Eine Hypothese? Alain Therys Name wurde nirgends erwähnt, doch Richard Evans hatte mir versichert, dies wäre erst der Anfang.
»Wir können derzeit noch keine Namen veröffentlichen«, hatte er erklärt. »Diese Menschen können uns in den Ruin klagen.«
»Patrick ist tot«, sagte ich. »Ich weiß, dass Alain Thery dahintersteckt.«
»Es kann schon sein, dass Sie das wissen«, entgegnete Richard Evans, »aber derjenige, der dafür ins Gefängnis kommen könnte, bin ich.«
Er war höchstpersönlich im Büro geblieben und hatte die halbe Nacht gearbeitet, zusätzliches Personal einberufen, alles koordiniert und die Artikel selber geschrieben.
»Cornwall hat verdammt noch mal recht«, sagte er begeistert, als er anrief, um einige Informationen mit mir abzugleichen. »Das ist eine verdammt gute Story, eine richtige Preisgewinnerstory! Wie schade, dass wir seine Energie und seine Augenzeugenberichte nicht dabei haben, seine Gefühle, als er diesen armen Immigranten aus dem brennenden Inferno wegschleppte.«
Von seinem Foto in der Verfasserzeile des Artikels richtete Evans seinen Blick auf mich, hellblau und durchdringend.
»Es gehört zu den dunklen Seiten der globalen Wirtschaft, dass Immigranten als billige oder sogar kostenlose Arbeitskräfte benutzt werden«, schrieb er und zog Parallelen zum vormodernen Sklavenhandel. »Damals war ein Sklave eine Investition, die man über Generationen behielt, heute ist er eine Gebrauchs- und Wegwerfware unter vielen. An dieser Stelle soll nicht bewertet werden, was vorzuziehen ist. Vielmehr sollte es uns darum gehen zu beenden, was die Abolitionisten vor gut zweihundert Jahren begonnen haben: die Sklaverei auf unserer Erde für immer auszurotten.«
Der Artikel schloss mit einer Mahnung an die Politiker. »Demokratien«, so schrieb Evans, »müssten zu besseren Lösungen imstande sein, als Mauern zu bauen, um sich gegen andere Länder abzuschotten.« Am Ende bedauerte er Patricks Tod und schrieb, dass er einer der meistgeschätzten Reporter der Zeitung gewesen sei und eine große Lücke hinterlasse.
Mit jeder Stunde konnte ich verfolgen, wie sich die Nachricht weiter im Netz verbreitete.
Zuerst nahm CNN Bezug darauf, schließlich ein Fernsehsendernach dem anderen, und als in Europa der Vormittag anbrach, zogen immer mehr Zeitungen in Spanien, Frankreich und Großbritannien nach.
Das Foto aus Patricks Verfasserzeile in The Reporter ging in Massenauflagen um die ganze Welt. Einige hatten auch ein Bild von mir aufgetan, von der Website des Joyce Theatre .
Eine ordentlich frisierte und dezent geschminkte Frau lächelte mir von dem Foto entgegen, eine Person aus einem anderen Leben.
Ich hörte auf zu lesen und betrachtete das Foto von Patrick; es war vor etwa zwei Jahren aufgenommen worden. Er wirkte ernst und war ordentlich gekleidet. Für mich sah er fremd aus. In einem Augenblick eingefangen, der hastig vorbeieilte.
Jetzt mussten wir lediglich warten.
Richard Evans hatte beteuert, dass die Geschichte eine Eigendynamik entwickeln würde. Der Ruf nach einer Ermittlung würde lauter werden, bis die Polizei zum Agieren gezwungen wäre, und am Ende würde die Gerechtigkeit siegreich aus »all der Scheiße« hervorgehen, wie er es ausdrückte.
TARIFA
MONTAG, 6. OKTOBER
Am Montag kamen sie, um seine Leiche auszugraben. Ich beobachtete alles aus einiger Entfernung. Es lag nicht mehr in meiner Hand. Der kleine Bagger setzte zurück, machte eine Kurve und erreichte das Grab. Die Kameras filmten den ersten Einsatz der Schaufel. Das Gemurmel schwoll an.
Ich hockte hinter einem der katholischen Gräber und hatte mir die Kapuze ins Gesicht gezogen, um nicht erkannt zu werden.
Der vorher so einsame, hintere Teil des Friedhofs war jetzt voller
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