Toedliche Hoffnung
darauf abstellte.
»Sie haben einen toten afrikanischen Flüchtling hier in Tarifagefunden und zwei weitere in der Nähe von Cádiz. Die marokkanische Küstenwache hat von weiteren Toten in der Meeresenge berichtet.«
Sie musste zu der Zeitung hinüberschielen. »Tote Flüchtlinge an der Costa de la Luz gefunden«, stand dort, es war eine englischsprachige Zeitung. Es gab ein Foto von Menschen, die an einem Strand standen, und eine kleine Karte mit einem Kreis um die Stadt Tarifa. Ihr Herz raste. Wie sie sehen konnte, war es von dort nicht weit bis Cádiz.
»Sie glauben, dass sie in der Nacht zum Sonntag versuchten, die Meeresenge mit einem Gummiboot zu überqueren«, sagte Jillian und rührte in ihrer Teetasse.
Ihre Augen wanderten zum Text. Jemand hatte ein Gummiboot gesehen, das in der Nacht westlich von Tanger von einem Strand abgelegt hatte, doch nichts deutete darauf hin, dass es die andere Seite erreicht hatte. Die marokkanische Küstenwache hatte auch keine Informationen darüber, dass es zurückgekehrt war. Sie dachte an die Schleuser. Ob sie auch ertrunken waren? Sie hatte noch gehört, wie der Motor angelassen wurde, und dann waren sie fort gewesen. Ihre Gedanken wanderten zu Taye, und sie durchsuchte den Text nach einem Zeichen dafür, dass er nicht unter den Toten war. Zwei Männer und eine Frau waren gefunden worden. Die Frau war schwanger gewesen. Sie schloss die Augen. Hörte das Flüstern in der Dunkelheit um sich herum. Zaynab. Catherine. Toyin. Wer bestimmte darüber, wer am Leben bleiben durfte und wer sterben musste? Dass ausgerechnet sie sich an ein Tau geklammert hatte. Als sie versunken war und kaum noch Kraft gehabt hatte, hatte es einen Ruck im Tau gegeben. Mit ihrer letzten Kraft hatte sie sich hochgezogen, bis sie an die Oberfläche gelangte und so viel Luft in ihre Lungen sog, wie sie bekommen konnte. Das Tau war mit einer Boje verbunden gewesen. Sie musste sie vom Boot abgerissen haben, als sie um Halt gekämpft hatte. Die Boje hüpfte auf dem Wasser, und sie klammerte sich mit all ihrem Gewicht daran und schwappte auf den schwarzen Wellen dahin. Sie konnte das Gummiboot nicht länger sehen und keinen der anderen. Umsie herum war nur das Meer. Eine Lampe, die irgendwo aufblinkte und wieder verschwand. In dem kalten Wasser konnte sie ihre Beine nicht mehr spüren. Es gelang ihr, sich mit dem Tau enger an die Boje zu binden. Sie durfte nicht loslassen, nicht einmal wenn sie starb, denn dann würde sie auf den Grund sinken und von den Fischen gefressen werden, und ihre Mutter würde nie erfahren, was ihrer ältesten Tochter widerfahren war.
»Englisch kannst du also lesen«, sagte Jillian. »Dann müsstest du auch verstehen können, was ich sage.«
Sie goss ein wenig Milch in ihre Teetasse.
»Ich kann dich hier nicht ewig verstecken«, sagte sie.
Später brachte ihr der Mann, der Nico hieß, einen kleinen Fernseher. Er war jünger als Jillian, fast noch ein Junge, mit langem Haar und Sandalen an den Füßen. Sie vermutete, dass er Jillians Sohn war, aber er wohnte nicht im Haus. Vielleicht war er auch ihr junger Liebhaber.
Jetzt stand der Fernseher auf einem Schrank in der Ecke. Sie wagte es nicht, ihn einzuschalten, bevor Jillian mit dem Frühstück gekommen war. Man konnte BBC empfangen. Am späten Abend hatte sie einen Film über einen Mann gesehen, der als Kommissar in einem englischen Dorf wohnte. Sie hatte die Dialoge leise wiederholt, versucht, die elegante Sprachmelodie zu treffen, doch es war beinahe unmöglich. Sie hatte Träume gesponnen. Sich vorgestellt, wie sie eines Tages verheiratet wäre und in einer solchen Stadt wohnte, obwohl das wahrscheinlich langweilig war. Während ihrer Jahre an der Universität in Nsukka hatte sie Geschmack an der Freiheit gefunden. Sie wollte nicht wieder in ein Dorf ziehen. Sie würde nicht heiraten, zumindest vorerst. Sefi war diejenige, die heiraten würde. Sie dachte darüber nach, was für ein Glück es war, dass sie den Platz der Schwester übernommen hatte. Sefi hätte das Meer nicht überlebt. Sie war ängstlich, schwach und eitel.
»Du bist ja schon wach!« Jillian kam mit einem Tablett in der Hand zur Tür herein. »Du siehst viel gesünder aus. Darf ich mal deine Stirn fühlen?«
Die Hand, die sich auf ihre Stirn legte, war kühl, mit vielen Ringen. Ein Ring hatte die Form einer Schlange, die sich um den Finger ringelte.
»Dein Fieber ist weg, da bin ich mir ziemlich sicher.«
PARIS
SAMSTAG, 27. SEPTEMBER
Ich lehnte mich
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