Tödliche Jagd
Steinkreis
dort oben auf dem Hügel war so auffällig, daß er meiner
Ansicht nach der allerletzte Ort war, wo man uns vermuten könnte.
Ich sagte zu Helen: »Hol noch ein
paarmal tief Luft, und mach dich auf einen langen Spurt gefaßt.
Es sind ungefähr drei hundert Meter. Ich will dich zum
Schluß nicht an den Haaren hinter mir herziehen, aber ich tu's,
wenn's sein muß.«
Sie gab keine Antwort, stand auf, drückte das
Taschentuch gegen die Wange und stolperte los. Das, was ich vorhatte,
war natürlich äußerst gefährlich – im
offenen Gelände waren wir den Blicken schutzlos preisgegeben, wir
hatten keine Möglichkeit, uns zu verstecken, wenn unsere
Jäger auftauchen sollten. Wir brauchten einfach Glück. Und
wir hatten es, denn plötzlich trieb der Wind den Regen wieder wie
einen dichten Vorhang über die Klippen und verschlechterte die
Sichtverhältnisse erheblich.
Wir schafften es tatsächlich bis zum Steinkreis
und gingen dort in Deckung, als der Wind den Vorhang aus Regen und
Dunst zerriß und unten am Waldrand eine Gruppe von Reitern
enthüllte.
»Das war haarscharf«, flüsterte ich ihr zu.
Sie kauerte sich, das Tuch gegen die Wunde
drückend, an einen Stein und sah mich mit großen,
schmerzerfüllten Augen an. »Du hättest Max vorhin
töten können – einfach abknallen, als er vorbeiritt.
Warum hast du es nicht getan?«
»Ich heb' ihn mir für später auf.«
Ich schob ein neues Magazin in mein AK. Mit belegter
Stimme fragte sie: »Was bist du nur für ein Mensch,
daß du so einfach töten kannst – so
kaltblütig?«
»Das darfst du mich nicht fragen. Frag deinen
Bruder. Black Max. Er war derjenige, der mich dazu gemacht hat.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das kann
ich nicht glauben. Jeder Mensch ist für sein Schicksal selbst
verantwortlich.«
»Das kannst du in deinen Seminaren
an der Sorbonne erzählen. Dort machst du vielleicht Eindruck
damit. Und wie ist das übrigens mit deinem Bruder? Gilt der Satz
auch für ihn und sein Verhalten? Er ist ein Mörder,
Überläufer und Verräter. Oder hat er dir nichts davon
erzählt?«
Das war zuviel für sie; sie brach völlig
zusammen, sank zu Boden, vergrub das Gesicht im nassen Gras. Ich fand
in diesem Augenblick bestätigt, was ich eigentlich schon immer
vermutet hatte: Sie würde es nicht fertigbringen, ihm Schuld
zuzuweisen, ihn zu verdammen. Sie liebte ihren Bruder, vergötterte
ihn mit jeder Faser ihres Herzens. Man würde es sich zu einfach
machen mit der Behauptung, diese Liebe sei inzestuös. Die Dinge
lagen viel komplizierter.
Und dennoch empfand ich kein Mitleid mit ihr; die
Zeiten waren längst vorbei. Ich wünschte sie alle zur
Hölle – sie sollten so leiden, wie ich gelitten hatte. Was
St. Claire anging, hielt ich die dreißig Jahre Freiheitsentzug
– die Mindeststrafe, die ihn erwartete für angemessen. Ihm
eine Kugel in den Kopf zu jagen, hieße, ihn viel zu billig
davonkommen zu lassen.
Ich war wie besessen von diesen Rachegedanken,
wünschte mir inständig, daß sie in Erfüllung gehen
würden, doch zu diesem Zeitpunkt war ich, wie ich bereits
erwähnte, wohl nicht mehr ganz Herr meiner Sinne – auch kaum
verwunderlich angesichts dessen, was alles geschehen war. Ich starrte
in den grauen Morgenhimmel und betete, daß Vaughan bald
käme. Irgendwo wieherte ein Pony. Etwa zweihundert Meter unterhalb
unseres Verstecks ritten mehrere Männer um den Hügel; ihre
Stimmen waren deutlich zu hören. Ich machte das AK
schußbereit und bedeutete Helen, sich ganz still zu verhalten.
Sie ritten im schnellen Trab. Dann geschah es: Einer
von denen, die die Nachhut bildeten, riß sein Pony herum und
jagte im Galopp auf den Steinkreis zu.
Sogar jetzt noch zögerte ich, wartete ab, hoffte, er würde
wieder wegreiten. Wenige Meter vor uns hielt er sein Pony an, ein
junger Mann mit regennassem Gesicht und einem rotschwarzen Band um die
Stirn, dessen lange Enden bis auf den Rücken fie len. Seine
einzige Waffe war eines dieser meterlangen Schwerter, das in einer
Scheide aus Elfenbein steckte.
Da begriff ich, was vorging, sah die Parallelen zum
Ehrenkodex der Samurai. Er war ein Krieger, bereit, ehrenvoll nach
alter Sitte zu sterben, auf die für einen Mann einzig richtige
Weise – mit dem Schwert in der Hand. Sein Stirnband ähnelte
ganz eindeutig dem Todesband der Samurai, das von denen getragen wurde,
die den Tod im Angesicht des Feindes suchten.
All das mag sich verrückt anhören,
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