Toedliche Luegen
von dir kontrollieren zu lassen.“
Beruhigend hob Germeaux beide Hände und trat einen Schritt auf Beate zu, als wollte er sie tröstend in den Arm nehmen. Er registrierte mit einer gewissen Verärgerung, wie sie ein Stück vor ihm zurückwich, und lachte unsicher. „Oh nein, das will ich keineswegs.“
W as sie dagegen nach wie vor nicht überzeugte, wie er bemerkte.
„ Ich bin mir durchaus bewusst, dass mir weder Kontrolle noch Kritik an deinem Leben zustehen. Ich möchte nicht mehr als … als bloß nachholen, was ich …“
Ihn auf seinem Podest der Selbstsicherheit wackeln zu sehen, stand ihm gar nicht so schlecht, dachte Beate und empfand plötzlich Mitleid mit ihm.
„… nachholen, was mir vierundzwanzig lange Jahre verwehrt blieb.“
„ Und wie stellst du dir das vor, hä? Ich kann nicht ohne weiteres meine Zelte hier abbrechen.“
„ Mais pour … Warum nicht?“
„ Warum? Ja, warum? Weil … weil ich im September zu Karo nach Leipzig ziehe und dort ein Studium beginnen werde. Genau, das werde ich.“
Karo wusste zwar noch nichts von ihrem Glück, dachte sie achselzuckend, aber sie war Kummer mit ihr gewöhnt und würde auch diese Überraschung überleben.
„In Paris kannst du das ebenfalls. Um die französische Sprache und Geschichte zu studieren, ist kein Ort dieser Welt besser geeignet als Paris.“
Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Sein Einwand musste sogar einen Dickkopf wie Beate überzeugen , wenngleich ihr absolut schleierhaft war, woher er wissen konnte, was sie nach der ersten Pleite studieren wollte. Und außerdem hatte sie viel zu viel getrunken, um sich zu nachtschlafender Zeit auf tiefschürfende Diskussionen einzulassen. Sie seufzte, als würde sie aufgeben, und ließ die Schultern sinken.
„Dagegen gibt es leider kein vernünftiges Argument. Zumindest sollte ich darüber nachdenken. Aber ich …“
Verlegen pustete sie eine Strähne ihres Haares aus der Stirn. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich ein Auslandsstudium nicht leisten konnte? Von ihren Eltern würde sie kaum erwar ten können, dass die ihre Tochter weiterhin finanziell unterstützten, wenn sie ihnen gleichzeitig eröffnete, künftig bei ihrem Vater, dem anderen, dem, der ihrem vermeintlichen Vater ein Vierteljahrhundert lang Hörner aufgesetzt hatte, leben zu wollen.
„Du befürchtest, deine Familie könnte etwas dagegen haben?“
Beate überlegte den Bruchteil einer Sekunde, ob wildes Gelächter an dieser Stelle wohl angebracht wäre. Schließlich entschied sie sich dagegen und winkte stattdessen verächtlich ab. „Ach, die! Die Familie. Nein, ganz bestimmt nicht. Meine Brüder habe ich vor sieben oder acht Jahren das letzte Mal gesehen und das Verhältnis zu meinen Eltern war ebenfalls nie von allzu großer Liebe geprägt. Wofür hatten wir Kindermädchen und andere Bedienstete? Oder ist dir das bei deinen Beobachtungen entgangen?“
„Was ist es dann?“
Im selben Moment schlug sich Pierre Germeaux mit der flachen Hand an die Stirn. Beate glaubte sogar, so etwas wie eine Spur von Schamröte auf seinem Gesicht zu erkennen. Allerdings konnte es ebenso gut eine Sinnestäuschung gewesen sein. Denn dass es noch etwas geben sollte, das diesen Mann innerhalb weniger Minuten ein weiteres Mal aus der Fassung bringen konnte, hielt sie für ausgeschlossen.
„ Oh, es tut mir leid. Machst du dir Sorgen wegen … Mon dieu , Beate! Hast du schon vergessen, du bist meine Tochter! Wem, wenn nicht dir, gehört alles, was ich besitze? Verzeih meine Gedankenlosigkeit.“
Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatten sie sich als zwei Wildfremde gegenübergestanden. Als sie jedoch am folgenden Tag voneinander Abschied nahmen, gab Beate ihrem Vater das Versprechen mit auf seinen Weg zurück nach Paris, das Leben in Frankreichs Hauptstadt mit ihrer neuen Familie ausprobieren zu wollen.
Die junge Frau ahnte nicht im Entferntesten, wie sich mit diesem Entschluss ihr weiteres Dasein innerhalb kürzester Zeit dramatisch verändern sollte, wie sie sich eines Tages von ganzem Herzen wünschen würde, Pierre Germeaux an diesem wunderschönen Wochenende in Berlin niemals begegnet zu sein.
4 . Kapitel
Alle Lichter im Sportlerheim brannten, was für diese späte Stunde zweifellos ungewöhnlich war. Die Baracke wurde bereits seit Jahren nicht mehr von Sportlern genutzt, sondern diente tagsüber als Betreuungsstätte für Kinder, die sich nach Schulschluss zum Mittagessen, zur Erledigung ihrer Hausaufgaben oder zum
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