Toedliche Luegen
Hilfe zu holen.
Nein, falsch! Vor allem sollte sie das Fenster weit aufreißen, um angesichts des bestialischen Geruchs nicht ebenfalls die Besinnung zu verlieren. Oder sich zu übergeben, was vermutlich noch viel peinlicher gewesen wäre. Außerdem sollte sie nach Juliette rufen, auf jeden Fall aber Alains Atmung und Puls kontrollieren. Sicherung der Atemwege und stabile Seitenlage, Schutz vor Auskühlung, ging es ihr durch den Kopf. Gelernt war gelernt, wofür sonst hatte sie an der Schule eine medizinische Grundausbildung für Schiffsoffiziere absolviert? Die Behandlung von Alkoholleichen war nicht ohne Grund fester Bestandteil des Lehrplanes gewesen.
Sie wusste genau, welche Maßnahmen in einem solchen Fall ergriffen werden mussten, dennoch fühlte sie sich außerstande, zwei Schritte in das Zimmer und zu Alain zu gehen. Nach wie vor klammerten sich ihre Finger am Türrahmen fest, während ihre Augen unbeweglich auf das schmale Gesicht des Mannes geheftet waren.
Mein e Güte, Bea, wach auf! Er wird sterben, wenn du nicht sofort etwas unternimmst. Du musst Alain helfen. Reiß dich zusammen! Er braucht deine Hilfe!
Sie schluckte heftig und würgte an dem Kloß in ihrem Hals. Vergeblich versuchte sie sich zu einem klaren Gedanken zu zwingen.
Unsinn, so schnell stirbt sich’s nicht. Er ist stockbesoffen, was sonst? Dieser Kerl ist nicht der Erste, den ich in solch einem erbärmlichen Zustand vor mir liegen habe. So ein Vollidiot, säuft wie Goliath, obwohl er höchstens wie ein Zwerg verträgt. Ich habe noch nie erlebt, dass sich einer bis zum Stehkragen zuschüttet, bis er keine Kontrolle mehr über sich hat. Zum Teufel, ich habe den letzten Törn übern Bodden auf Hannes’ Zeesenboot nicht vergessen! Da ging es nicht bloß einem dreckig. Also schön, dann werde ich eben seinen Puls fühlen und ihm anschließend einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf schütten. Das hat bisher bei jedem wahre Wunder bewirkt.
Sie nickte zufrieden mit dieser Entscheidung und kniete sich neben Alain. Mit gerümpfter Nase wedelte sie die widerliche Wolke beiseite, die den Schlafenden umgab, und wendete den Kopf ab, während Mittel- und Zeigefinger neben dem Kehlkopf nach seinem Puls suchten.
„Herrjeh, stell dich nicht so dusslig an! Du hast bisher bei jedem Mann gefunden, was du gesucht hast. Fuck! “ Sie riss ihre Hand weg, ballte die Finger zur Faust und atmete tief durch, bis das Zittern etwas nachließ.
„Ruhig jetzt“, munterte sie sich auf. „Noch mal ganz langsam alles von vorn. Such’ seinen Kehlkopf, mit drei Fingern findest du daneben … Komm schon. Na, komm schon, irgendwo muss doch was zu spüren sein! Oh, verfluchte Hölle, du bist nicht tot, Alain Germeaux! Wach endlich auf!“
Verzweifelt biss sie sich auf die Lippen. Nein, sie schaffte es nicht! Alain war der Erste, den sie in einem derart miserablen Zustand vorfand. Sein Puls ließ sich kaum mehr erahnen, wenn sie das schwache, unregelmäßige Flattern, welches sie spürte, nicht sogar ihrer Einbildung verdankte. Wie ein Rettungsring erschien ihr das Telefon, welches sie in diesem Moment auf dem Tisch in der Ecke unterm Fenster entdeckte. Sie sprang auf und wählte den Notruf, kurz und präzise gab sie ihre Adresse an und beschrieb Alains Zustand. Es würde keine fünf Minuten dauern, versicherte eine nette Dame am anderen Ende der Leitung, bis der Rettungswagen in der Rue Jean Caroupaye eintreffen würde.
Erleichtert nickte Beate und stieß den angehaltenen Atem aus. Mehr konnte sie im Moment wirklich nicht für ihn tun. Noch einmal kniete sie nieder und beugte sich über Alain. Wenigstens die Jacke wollte sie ihm ausziehen, damit er es etwas bequemer hatte.
Mit einem heiseren Aufschrei zuckte sie zurück. Eine Sekunde lang befürchtete sie sogar, ihr Herzschlag könnte vor Schreck aussetzen. Ihre smaragdgrünen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sie über seine Bauchmuskeln – ein makelloser Sixpack – wanderten, die durch sein T-Shirt hindurch zu erkennen waren. Mit unkontrollierten Handgriffen schob sie das fleckige Oberteil über die eng anliegende Lederhose nach oben. Nein, sie hatte sich nicht geirrt! Beate stöhnte auf und fühlte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und nichts als Leere in ihrem Hirn hinterließ.
Vom Brustkorb bis unterhalb des Nabels verunstaltete ein Hakenkreuz Alains Bauchdecke. Die Wunden waren tief und fast schwarz von getrocknetem Blut und Dreck.
8. Kapitel
Sie hatte zweifelsohne den
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