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Toedliche Luegen

Toedliche Luegen

Titel: Toedliche Luegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansi Hartwig
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ins Schwanken geraten. Reichlich unpassend in einer Villa wie dieser mit all dem protzigen Interieur. Alain schien ein wahrhaft komischer Vogel zu sein, der offenbar unter tödlicher Geschmacksverirrung litt. Die Einrichtung stellte absoluten Stilbruch dar, das erkannte sogar sie, die eine abgrundtiefe Abneigung gegen Konventionen hegte. Wie erst mochte wohl der Mensch sein, der dahintersteckte?
    Sie hatte keineswegs das Schild mit dem in grellen Farben gemalten Verbot übersehen und für einen Moment, einen ganz kurzen Augenblick nur, hatte sie in der Tat gezögert , die Tür zu öffnen. Ihre unstillbare Neugierde indes schob sie bereits weiter die Stufen empor. Warum dagegen ankämpfen, da Juliette nichts von ernst zu nehmenden Verboten gesagt hatte, sondern lediglich erwähnte, das Dachgeschoss sei dem Junior des Hauses vorbehalten. Weshalb also sollte sie warten, bis sich dieser zeigte oder ihr eine Einladung sandte?
    Ihre Augen wurden immer größer, während sie mit offenem Mund das ausrangierte Schiffszubehör an den Wänden bestaunte. Uralte Seekarten und Gemälde von stolzen Segelschiffen hingen neben kunstvoll geknüpften Seemannsknoten, Positionsleuchten und einem ausgestopften Sägefisch. Hastig zog sie den Kopf ein, um nicht an die Schiffsglocke aus glänzendem Messing zu stoßen.
    Ein leiser Anflug von Wehmut überfiel sie, als sie an ihren unrühmlichen Abgang von der Seefahrtsschule vor wenigen Tagen dachte, an das Begraben-Müssen eines großen Traumes, nämlich selbst einmal als Schiffsoffizier zur See zu fahren, sämtliche Weltmeere zu bereisen, wochenlang mit Dutzenden Männern auf engstem Raum zusammenzuleben und dafür bezahlt werden, fremde Länder zu sehen.
    Sie klopfte an die mit Leuchtfarben beschmierte Tür, die sich fast schmerzhaft von dem nostalgischen und liebevoll gepflegten, maritimen Gerümpel abhob. Um Feingefühl schien es bei Alain nicht zum Besten bestellt zu sein. Achselzuckend wandte sie sich zum Gehen, nachdem sie auch nach dem zweiten Klopfen keine Antwort erhalten hatte. Offensichtlich war Alain nicht zu Hause.
    Doch irgendetwas hielt sie zurück. Später würde sie nicht mehr sagen können, was es eigentlich gewesen war. Eine nicht zu beschreibende Unruhe hatte aus heiterem Himmel die Kontrolle über ihr Handeln übernommen. Sie kam sich vor wie eine Marionette an ihren Fäden, die eine unsichtbare Kraft zum Umkehren bewegte, ihre Schritte lenkte und ihre Hand schließlich auf die Türklinke legte. Beate hatte sie noch nicht nach unten gedrückt, als sich ihre Nackenhaare aufstellten und ein eiskalter Finger ihren Rücken entlangfuhr, bis sie sich schüttelte.
    Der Gestank, der ihr aus dem Zimmer entgegenschlug, nahm ihr den Atem , ein abscheuliches Gemisch aus Alkohol, Erbrochenem und Urin. Sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Entsetzt wich sie zurück und presste sich die Hand vor die Nase.
    Sie hatte das Foto, das sie Pierre Germeaux in Berlin abgebettelt hatte, unzählige Male eingehend studiert, das Foto eines jungen Mannes, dessen tiefblaue Augen widerwillig in die Kamera funkelten, abweisend, trotzig, aber mindestens ebenso stolz und voll geballter Energie. Die sanft geschwungene Linie seines Mundes, um den ein sarkastischer Ausdruck spielte, die schmale Nase und hübsch geformte Ohren, jede einzelne Strähne des blauschwarz glänzenden Haares hatte sich Beate eingeprägt.
    Trotzdem hätte sie in diesem Moment den Bruder ihres Vaters nicht erkannt. Doch wer sonst, wenn nicht Alain Germeaux, konnte es sein, der da mitten im Zimmer auf dem Boden lag? Er schlief mit ausgebreiteten Armen, seine schulterlangen Haare hingen ihm in fettigen Strähnen über das leichenblasse Gesicht und gaben ihm einen verwahrlosten Ausdruck. Seine Augen, diese auf dem Foto so unverschämt blauen Augen, waren tief in ihre Höhlen gesunken. Die Wimpern warfen dunkle Schatten auf die hohen, scharf hervortretenden Wangenknochen. Der Schlaf schien ihn überrascht zu haben, als er gerade dabei gewesen war, seine Lederjacke auszuziehen. Mit einem Arm steckte er noch in dem Kleidungsstück.
    Wie zur Salzsäule erstarrt stand Beate in der Tür, während sich ihr Magen zu einem wüsten Knoten verdrehte und die eben erst genossenen Speisen nach oben katapultierte. Mit einem Ausdruck maßlosen Entsetzens starrte sie auf den regungslosen Mann und konnte sich selbst keinen Fingerbreit von der Stelle rühren. Dabei wusste sie, dass sie sofort zum Telefon gehen und die Notrufnummer wählen musste, um

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