Toedliche Luegen
Gesicht, strich sie über die Ledermappe, die sie fest umklammert hielt, um sie wie einen kostbaren Schatz zu behüten.
Wie viel Schweiß und Zeit hatte sie die Vorbereitung auf diesen denkwürdigen Tag gekostet! Das überaus unterhaltsame und letztendlich erfolgreiche Vorstellungsgespräch beim Verein zur Förderung des Tourismus entschädigte sie für die Mühen, die sie sich auferlegt hatte , für die endlosen Stadtrundfahrten, die unzähligen Kilometer, die sie in den vergangenen Wochen durch Museen und Galerien der Stadt gelaufen war, für die Stunden, die sie zwischen staubigen Geschichtsbüchern zugebracht hatte, anstatt einen wunderschönen, wenngleich viel zu kurzen Herbst in Paris zu genießen.
In der Rue Périgault suchte sie sich einen ruhigen Platz in einem hübschen, kleinen Café. Die Reklameaufsteller am Straßenrand priesen frischen Apfelkuchen aus der Hausbäckerei an, was in Beates Mund das Wasser zusammenlaufen ließ. Wer wollte da standhaft bleiben? Also sie bestimmt nicht! Sie war nicht zum Märtyrer geboren. Außerdem brauchte jemand, der mit der Luftverschmutzung einer Großstadt lebte, sich wegen ungesunder Ernährung nun wirklich keine Sorgen machen. Deswegen gönnte sie sich nicht bloß zwei Stücken ihres Lieblingsgebäcks, sondern zur Feier des Tages ebenfalls einen Amaretto zum Kaffee. Sie fand, sie hatte sich diese Belohnung verdient.
Entspannt lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete die Fußgänger, die an der breiten Glasfront des Cafés vorüberhasteten und sich mit ihren Schirmen gegen den Wind stemmten. Selbst ihre Gesichter wirkten so grau wie der Himmel.
Beate konnte der Versuchung nicht widerstehen , sich einen weiteren Kaffee zu bestellen, und öffnete dann die schmale Aktentasche aus feinstem Leder. Ihr Blick fiel auf das Handy, welches sie nach dem Vorstellungsgespräch noch nicht wieder eingeschaltet hatte. Angestrengt versuchte sie sich an ihre PIN-Nummer zu erinnern. Pierre hatte nach ihrer Ankunft in Paris darauf gedrängt, sie mit diesem nervtötenden Gerät auszustatten. Zu ihrer eigenen Sicherheit, wie er betonte, und damit sie jederzeit und überall ihren Papa erreichen konnte, sollte sie sich ungeachtet diverser Stadtpläne einmal verlaufen oder sonst irgendwie in Schwierigkeiten geraten. Sie hatte angesichts seiner übertriebenen Sorge nachsichtig gelächelt und schweigend das Telefon an sich genommen.
Was hatte sie schon erwartet? Keine Nachricht auf der Mailbox. Von wem auch? Die wenigsten ihrer Bekannten in Deutschland besaßen bisher ein solches Spielzeug. Vielleicht von Suse?
Beates Gesicht bekam einen wehmütigen Ausdruck. Susanne Reichelt hatte sich seit Beginn ihrer ersten Reise als Funkassistentin auf dem Bulkcarrier „Fritz Stoltz“ bloß ein einziges Mal bei ihr gemeldet. Kurz und bündig war ihr Seefunktelegramm gewesen, nüchtern und belanglos. Für mehr als einen herzlichen Gruß und „Mir geht es bestens, bin auf dem Weg nach Klaimi“ und „Die Männer sind gut drauf und ich noch besser … Du weißt schon, wo.“ war auf dem Zettel kein Platz gewesen.
Trotz des angedeuteten Scherzes, weil Suse mit den Pünktchen sagte, dass sie wie immer gut drunter war, blieb sie enttäuscht zurück, weil sich ihre geschwätzige Freundin derart wortkarg gegeben hatte. Doch viel mehr noch hatte sie Suse um ihr Leben auf See, umgeben von echten Männern, rauen Seebären, beneidet. Obendrein konnte die Kleine einer richtigen Arbeit nachgehen, sie trug Verantwortung und erlebte echte Abenteuer.
Beate hätte nie geglaubt, wie sehr sie sich mit dieser Annahme irrte.
Sie hätte in der Zwischenzeit wenigstens anrufen können, grummelte Beate verstimmt vor sich hin und stopfte sich trotzig ein weiteres Stück des köstlichen Kuchens in den Mund. Warum nur war alles so plötzlich außer Kontrolle geraten? Hätte sie es nicht irgendwie doch schaffen können, ihre private Katastrophe zu verhindern? Was wäre aus ihr geworden, wenn Pierre ihr nicht gerade zu diesem Zeitpunkt über den Weg gelaufen wäre? Ob sie die Notbremse noch rechtzeitig gezogen und sich auf den Hosenboden gesetzt hätte, um ihren Studienabschluss unter Dach und Fach zu bringen? Es wäre zumindest einen Versuch wert gewesen. Die bequemere Möglichkeit wäre natürlich gewesen, sich auf eine ernsthafte Beziehung mit Answer einzulassen, so richtig ernsthaft mit allem Pipapo, Versprechen und Ring, Häuschen und ein, zwei Kindern, mit denen sie für die nächsten Jahre beschäftigt
Weitere Kostenlose Bücher