Toedliche Luegen
„Hallo!“
Sie wäre vor Scham vermutlich noch dunkler angelaufen, wenn es möglich gewesen wäre. So senkte sie lediglich den Kopf, als sie das Symbol auf dem Display entdeckte, welches den Eingang einer Nachricht signalisierte.
„Warte heute nicht auf mich. Bleibe eventuell über Nacht in Brest. Liebe Grüße. Papa.“
Beate verdrehte die Augen. Das hatte sie fast vergessen! Bei dem Wirbelsturm „Colette“, der am Vortag über dem Atlantik gewütet hatte, war der Großteil seiner hochwertigen Ladung auf einem Frachtschiff verloren gegangen, wie er am frühen Morgen erfahren hatte. Also war er umgehend nach Brest aufgebrochen, da in der Reederei eine Krisensitzung stattfinden sollte. Seine unerträglich gereizte Stimmung hatte sie von neugierigen Fragen abgehalten. Er sprach ohnehin höchst ungern über seine Geschäfte.
Damit stand ihr also wieder einmal das zweifelhafte Vergnügen bevor , allein mit Alain zu sein. Das Abendessen würde somit für sie beide zur Tortur werden, das war ihr jetzt schon klar. Sie stieß einen entnervten Seufzer aus und fing sich dafür den fragenden Blick der Serviererin ein. Entschuldigend hob sie die Hände und deutete mit einem kurzen Kopfnicken auf ihr leeres Glas.
Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich Alain und sie die ganze Zeit über verbissen anschweigen würden, wie sie dabei krampfhaft bestrebt waren, dass sich ihre Blicke auch ja nicht zufällig trafen. Lieber Himmel, ihr Benehmen war einfach lächerlich! Seit Alain nicht mehr hilflos ans Krankenbett gefesselt war, hatte er sich in Windeseile in das selbstverliebte Monster zurückverwandelt, welches die unerwünschte Deutsche mit seinen Blicken und Worten auf die Palme zu treiben versuchte.
Und dabei konnte sie sich sogar an Momen te erinnern, in denen er sich über ihre Besuche gefreut hatte. Ja, wirklich wahr! Dann hatte er sie voller Erwartung begrüßt, ihr mitunter sogar eins seiner charmanten Lächeln geschenkt – dieses Lächeln, das Versprechen gab und sofort wieder brach – und darauf gehofft, sie würde ihm die quälende Langeweile in der Klinik vertreiben. Damals war sie wenigstens zu etwas nütze gewesen, schönen Schrank auch!
Zum Teufel, sie führten sich wie zwei dickköpfige, kleine Kinder auf! Vielleicht sollte sie ihn zu einer Wette überreden: Wer von ihnen hat als Erster dieses Spiel satt? Dann würde ihr infantiles Affentheater zumindest für Spannung sorgen. Obwohl, war ihr Verhältnis nicht ohnehin schon gespannt wie eine Bogensehne?
Dabei hätte es so schön sein können, jammerte sie und leerte das nächste Glas Amaretto in einem Zug. Wie gerne hätte sie beispielsweise etwas über sein derzeitiges Studium und das französische Schulsystem erfahren. Womit beschäftigte er sich in seiner Freizeit und wer waren seine Freunde? Wie wurde das Weihnachtsfest im Haus Germeaux gefeiert? (Es waren nur noch wenige Wochen bis dahin und sie nicht die Schnellste, wenn es um das Auswählen von Geschenken ging.) Noch viel lieber hätte sie ihn natürlich über die Transplantation ausgefragt, nachdem ihn Doktor Ferrard vor zwei Wochen aus der Klinik entlassen hatte und sie vermutete, dass die Transplantation von Erfolg gekrönt war.
L eider redete Alain nicht von sich aus darüber. Die physischen Folgen seiner Misshandlung hatte er überstanden. Zumindest gab er sich redlich Mühe, seinem Bruder und dessen Tochter den bekanntermaßen gleichgültigen, überlegenen Eindruck zu vermitteln. Allerdings entging es Beates Aufmerksamkeit nicht, dass er sich immer wieder ohne ersichtlichen Grund frühzeitig von den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten entfernte, totenbleich, am ganzen Körper zitternd und schweißnass. Ihren besorgten Blicken wich Alain dann jedes Mal aus.
Beat e wagte nicht, ihn nach seinem Befinden zu fragen oder ihm gar ihre Hilfe anzubieten. Sie vermutete, dass er psychisch größeren Schaden genommen hatte, als er jemals zugeben würde. Nie würde sie den furchtbaren Anblick vergessen, den ihr Alains verunstalteter Oberkörper geboten hatte. Es gefiel ihr nicht, dass er, anstatt seinem Lebensretter, nämlich ihr, in irgendeiner Weise dankbar zu sein, sie wie Luft behandelte. Selbstverständlich beschimpfte er sie nicht mehr lauthals wie bei ihrer ersten Begegnung in der Klinik. Doch die Wärme, die er so unverhofft bei dem darauf folgenden Krankenbesuch ausgestrahlt hatte, war bedauerlicherweise bloß ein Strohfeuer gewesen, vermutlich ein Versehen seinerseits, das er längst
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