Toedliche Luegen
Kraft jemand zu werden.
Beate nippte an ihrem Glas und beobachtete unter gesenkten Lidern, wie sich seine Wangenmuskeln anspannten, als sei er voller Wut. Oh je, mindestens neun verschiedene Farben von Verärgerung blitzten in seinen Augen, ehe sich seine Miene langsam in eine steinerne Maske verwandelte. In dieser Sekunde wurde ihr bewusst, dass sie allein mit einem neunzig Kilo schweren Alpha-Männchen war. Und sie hatte sich noch nie so sicher gefühlt.
„Manch einer behauptet sogar, ich hätte überhaupt keine Gefühle. Ich würde nicht an die Liebe glauben, weil sie lediglich eine unbeständige Laune der Natur ist, der höchstens Narren erliegen.“
„Und was sagst du selber dazu?“
„Ich fürchte, es stimmt. Ich verschwende keine Zeit mit Poesie, romantischen Empfindungen und ähnlichem Unsinn. Liebe ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.“
„Dann muss dein Leben wahrhaft trübselig sein. Ohne Liebe ist es wertlos. Und ich bedauere jeden, der zu feige ist, sich darauf einzulassen.“
Darauf schwieg er derart lange, dass sie schließlich zu ihm aufsah … und überrascht zusammenzuckte. Sein sonst so selbstbewusster Gesichtsausdruck war fort. Er wirkte zutiefst verwirrt und verunsichert. Aber sie bereute ihre Worte nicht. Wie konnte er so vermessen sein und sich über die Gefühle der anderen erheben? Kein Wunder, dass er in dem Ruf stand, beherrscht und eiskalt zu sein. Was hatte ihn so werden lassen? Es musste sich um etwas Tragisches handeln. Oder war er nur einer der wenigen, die kein Bedürfnis nach Liebe hatten?
„Du hast sicher von misshandelten Kindern gelesen, die man jahrelang irgendwo eingesperrt hat. Die Psychologen sagen, selbst wenn diese Kinder gerettet werden, entwickeln sie sich nicht wie andere, erlangen sie selten dieselben sozialen Fähigkeiten. Wenn sie nicht bis zu einem bestimmten Alter mit Sprache in Kontakt gebracht wurden, lernen sie nie mehr zu sprechen“, dozierte er. „Ich vermute, mit der Liebe ist es genauso. Ich habe nicht allzu viel davon erfahren, als ich ein Kind war, habe nie gelernt, mit Gefühlen umzugehen, und deswegen kann ich keine Liebe empfinden. Nicht für eine Frau. Für niemanden.“
„Du kannst dir nicht vorstellen, dass eine Beziehung zu einer Frau von Dauer sein kann? Für dich? Was stimmt nicht mit dir?“
„Hast du mir nicht zugehört? Ich habe keine Gefühle für andere. Nicht mal für Kinder.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Glaub es, Bea. Ich weiß es.“
„Jeder ist fähig zu lieben. Du klingst, als würdest du dich für ein Monster halten.“
„Das nun nicht unbedingt“, entgegnete er amüsiert. „Sagen wir es so, meine Seele ist verkrüppelt. Meine Kindheit hat mich für immer von der Norm getrennt. Und deshalb darf ich nie ein Leben in diese Welt setzen. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, ein Kind zu haben, das in der Gewissheit aufwächst, dass sein eigener Vater es nicht liebt. Deswegen kann ich mir keine Illusionen von einer heilen Welt leisten, weil es die nicht gibt.“
„ Eine heile Welt.“
Wie oft hatte Beate mit dem Schicksal gehadert, weil in ihrem Leben so vieles nicht nach ihren Wünschen gelaufen war. Aber war nicht gerade das ein überzeugender Grund, sich die Sterne vom Himmel zu wünschen? Sich alles Glück dieser Erde zu erträumen?
„ Vermutlich hast du Recht. Wieder mal. Träume und Romantik bringen einen nicht weit. Ich bin doch das beste Beispiel dafür! Ich habe mein bisheriges Lebens irgendwelchen Illusionen nachgehangen und du siehst ja, was es mir eingebracht hat, was für eine erbärmliche Niete aus mir geworden ist.“
„ Sag nicht so etwas, Bea. Deine Stärken liegen eben auf einem anderen als dem technischen Gebiet. Du hast dich einfach geirrt bei der Auswahl deines Studienfaches, hast dich vielleicht ein klein wenig überschätzt, aber aus diesem Fehler gelernt. Kennst du dieses Sprichwort? Unsere Träume können wir erst dann verwirklichen, wenn wir uns entschließen, daraus zu erwachen. Und genau das tust du gerade.“
„ Doch nicht freiwillig! Ich will nicht erwachen, verstehst du, denn dann würde ich … Ich träume noch immer davon … Verdammt! Mir bleibt gar keine andere Wahl. Es ist einfach nicht das, woran mein Herz hängt.“
„ Wer sein Leben so aufbaut, dass er niemals auf die Nase fällt, der kann nur auf dem Bauch kriechen. Du dagegen bist eine verdammt charakterfeste, starke Frau, die immer wieder aufsteht, sooft sie auch fällt. Bea, du hast viel mehr
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