Toedliche Luegen
Offensichtlich versuchte er angestrengt die Frage zu verdauen, die Beate ihm vorgesetzt hatte. Eine ganze Weile überlegte er, was er darauf sagen sollte. Würde er sie mit einer Lüge abspeisen können? Würde er sie überhaupt anlügen wollen?
„Das … das ist die große Frage“, würgte er schließlich hervor. „Ich weiß es nicht, kann mich an nichts erinnern. Noch immer nicht. An gar nichts, verstehst du?“
Nach einer Weile, in der er in Gedanken versunken schien und Beate geduldig wartete und schwieg, redete er langsam weiter: „ Die Krankenschwestern sagten mir, an welchem Tag das passiert ist. In meinem Kalender hatte ich für jenen Abend einen Termin in der Vorstadt eingetragen und anschließend war ein Essen mit Pierre geplant. Ich weiß weder, ob ich einen oder beide Termine eingehalten oder was ich tagsüber gemacht habe. Habe ich vielleicht mit jemandem telefoniert? Bin ich einem Bekannten oder Unbekannten über den Weg gelaufen, der mir … der … Alles, einfach alles weg! Manchmal erwischen mich Erinnerungsfetzen, die ich nicht einordnen kann. Geräusche und Gerüche und … und das Gefühl, als würden sich Wurzeln in meinem Schädel ausbreiten und mir die Knochen sprengen. Dieses Geräusch …“
Er rieb sich den Hinterkopf und drückte die Finger gegen die Schläfen, als hätte er noch immer Schmerzen. Übelkeit stieg seine Kehle hoch und er schluckte schwer.
„Zu viel Alkohol, war Ferrard der Meinung, daher die Amnesie. Aber ich glaube nicht … nein, ich bin überzeugt, dass es das allein nicht war. Ich bin kein Waisenknabe, da mache ich mir gar nichts vor, doch intelligent genug zu wissen, wo meine Grenzen liegen. Aus welchem Grund hätte ich allein eine solche Menge konsumieren sollen? Außerdem war ich mit dem Motorrad unterwegs und an solchen Tagen habe ich nie getrunken. Nicht einen Schluck.“
„Und was sagt die Polizei dazu?“
Um seinen Mund zuckte nervös ein Muskel. „Kein Kommentar.“
„ Das heißt?“
„ Dass wir jetzt besser über etwas anderes reden sollten.“
Der schmerzhafte Stich in Beates Herz bedeutete ihr aufzuhören, ihn zu bedrängen. Sie war überzeugt, Alain würde auf weitere Fragen nicht mehr antworten. Sein ständiges Ausweichen gefiel ihr zwar nicht, trotzdem musste sie sich damit abfinden. Vorerst.
Denn der Tag würde kommen – oh ja, dessen war sie gewiss – eines Tages würde er ihr alles erzählen. Dann würde er sich sämtliche Sorgen und Ängste von der Seele reden und sie anflehen, ihm zuzuhören und zu helfen. Sie musste bloß etwas Geduld haben.
2 2. Kapitel
„Verrätst du mir noch ein wenig mehr von dir?“
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Ach komm schon, es ist sicher kein Geheimnis, wie du in dieses Haus gekommen bist.“
Er schien zwar zu lächeln, aber Beate kannte ihn inzwischen gut genug, um zu erkennen, dass dabei nicht die geringste Spur von echter Belustigung in seinen Augen lag, im Gegenteil, sie blickten hart und kalt wie Eis. Welchen neuerlichen, inneren Aufruhr mochte ihre Frage in ihm ausgelöst haben? Woran dachte er?
Besser, er konfrontierte sie gleich mit der nackten Wahrheit, ehe später – möglicherweise zu spät – das böse Erwachen kam. Zum jetzigen Zeitpunkt konnte sie noch eine Entscheidung treffen, ohne dass sie allzu tiefe Wunden schlagen würde.
„ Anders als in deinem Fall hat Pierre mich nicht eingeladen, in seinem Haus zu leben. Ich war hier nie willkommen. Und im Gegensatz zu dir kenne ich auch meine Eltern nicht. Meine Mutter war als junges Mädchen wie viele Spanier nach Frankreich zum Arbeiten gekommen und Hausangestellte bei Henri Germeaux. Als ihre streng katholische Familie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, haben sie sie angesichts dieser Schande verstoßen. Man stelle sich vor, ein uneheliches Kind! Und obendrein wusste niemand, wer der Vater dieses Bastards war, denn bis zuletzt hat sich das Mädchen geweigert, seinen Namen preiszugeben. Also blieb meine Mutter weiterhin in Germeaux’ Diensten. Wo hätte sie sonst auch hingehen sollen? Irgendwann nach meiner Geburt starb sie. Es wurde sogar gemunkelt, sie hätte sich das Leben genommen. Aber das sprach niemand offen aus.“
„Oh! “ Beate schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh, Alain, das tut mir leid.“
„Ich erzähle dir das nicht, damit du mich bemitleidest. Ich will bloß, dass du begreifst, worauf du dich eingelassen hast, als du in dieses Haus gekommen bist.“
„ Es muss furchtbar sein zu wissen, dass
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