Toedliche Offenbarung
hören. Seltsam, dass ich mich daran erinnere.
Dann drehte sich der Schütze in meine Richtung um. Nie werde ich diese leuchtenden Augen, dieses zufriedene Lächeln vergessen, aber auch nicht den Blutschwamm auf seiner linken Wange. Der dunkle Fleck erinnerte mich an den Umriss von Afrika. Der Junge sah aus wie jemand, der gerade ein Tor geschossen hat oder wie einer, der zum ersten Mal mit einer Frau zusammen gewesen ist – so berauscht vor Glück und Zufriedenheit war er.
Starr vor Entsetzen klebten meine Augen an ihm und ich vergaß zu atmen. Gleich würde der Junge mich bemerken. Noch einen Schritt, dann würde er direkt vor mir stehen. Ich sah seine riesigen Füße, die in groben Lederschuhen steckten, ich hörte seinen pfeifenden Atem. Gleich würde er mich bemerken. Ich schloss vor Angst die Augen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern und der Schuss würde knallen – und ich wäre es, der mit einem Schlag zur Seite fiele, wie ein getroffenes Stück Wild bei der Jagd.
Ich wartete. Nichts. Knacken von Zweigen, dann Schritte, die sich entfernten. Meine Glieder wurden plötzlich vor Erleichterung schwer. Der Mörder mit den großen Füßen und dem Blutschwamm im Gesicht war weitergegangen.
59
»Nichts. Weder haben wir Felix gefunden, noch irgendwelche scharfen Waffen.«
Auf diesen kurzen Nenner bringt Beckmann das Ergebnis der Hausdurchsuchung, als er mit Borgfeld und Streuwald zurück in der Polizeiinspektion Burgdorf ist. Sie haben alles abgesucht: Im Haus, im Keller, in den Nebengelassen. Überall. Wörstein hatte sie dabei mit seinem arroganten Grinsen beobachtet, aber nichts gesagt.
Beckmann lässt sich auf den Schreibtischstuhl fallen und greift zum Telefon. Die Staatsanwältin hebt sofort ab. Er hält sich nicht mit langen Vorreden auf.
»Ich bin mit Borgfeld, Streuwald und einigen anderen persönlich durch alle Keller und jeden Raum marschiert. Nichts. Die ganze Zeit eskortierten uns zwei junge Männer. Beide ließen uns aber keinen Augenblick aus den Augen. Nach drei Stunden waren wir fertig. Eine Gruppe von etwa zwanzig jungen Männern stand breit grinsend neben Wörstein. Keiner ließ sich zu einem Spruch hinreißen, nur einer spuckte vor mir auf den Boden.«
»Und sonst, irgendetwas Interessantes bemerkt?«
»Die einen kamen aus dem Wald und hatten gerade einen Unterstand gebaut, die anderen waren dabei, Wände zu streichen. Roch alles nach Farbe.« Die Streicharbeiten im Landschulheim sind allerdings sehr nachlässig ausgeführt, das hat Beckmann auf den ersten Blick gesehen. Seit der Renovierung von Marthas Küche kennt er sich damit aus.
»Wer sind die ? Können Sie die genauer beschreiben?«
»Entschuldigung, Frau Doktor Mackenrodt. Das sind natürlich die angeworbenen Jugendlichen. Sie sind zwischen achtzehn und zwanzig. Etwa die Hälfte der Jungen stand mit ihren abrasierten Köpfen vor uns, die Hände in die Hüfte gestemmt, als warteten sie darauf, zuzuschlagen. Einer trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Horst Wessel«, einer eins mit einem weißen Totenkopf. Die bedienten jedes Vorurteil. Die anderen dagegen wirkten mit ihren akkuraten Kurzhaarschnitten eher unauffällig. Die könnten auch im Tischtennisverein spielen.«
An den Unterarmen hatte er bei einigen die gleiche Tätowierung ausmachen können. Ein langer Strich mit einem oben und unten schräg angesetzten Haken, Farbe rot.
»Das war’s dann für heute.« Gequält kommen die Worte über die schmalen Lippen der Staatsanwältin. Die Aktion ist wahrlich kein Grund zur Freude. Im Gegenteil: Das bedeutet Ärger. Ärger mit Wörstein. Ganz großen Ärger. Da ist sie sich sicher. Ob er sich etwas wegen Amtsanmaßung einfallen lassen wird? Sie steckt sich eine Zigarette in den Mund und zieht kräftig.
»Wenn man vielleicht mit der Hundestaffel …«
»Beckmann, ich bitte Sie«, prustet sie in den Hörer. »Nicht nach dieser Aktion.«
»Aber der Junge …«
»Beweisen Sie einfach, wie effizient Sie und Ihre Kollegen diesen Fall bearbeiten können, dann ist vielleicht noch das eine oder andere möglich.«
Beckmann wartet auf einen Nachsatz, aber der folgt nicht.
60
Wenn Aarons Bericht stimmt … Martha hält inne. Das ist wirklich eine Dynamitladung für das beschauliche Celle. Bürger jagen Menschen, knallen Flüchtende in den letzten Tagen des Krieges, ohne zu zögern, ab. Wenn es stimmt … Aber das lässt sich überprüfen.
Sie wählt die Nummer von Roswitha Neumann. Nach sechsmaligem Klingeln hebt
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