Tödliche Option
Ich weiß, daß er nicht verdächtigt
wird. Das kann nicht sein.« Sie legte auf. Sie hatte keine Angst vor Dwayne. Er
hatte Ellie nicht getötet, er war nicht bei dem Bankett gewesen, und er war
auch nicht an dem Morgen, an dem Carlton Ash ermordet wurde, bei Luwisher
Brothers gewesen. Ein scharfer Schmerz stach sie in der Hand. Sie sah auf die
Flasche hinunter, die sie umklammerte. Ihre Fingernägel gruben sich in die
Handfläche. Ruhig Blut, Dummkopf, dachte sie. Sie hob die Flasche noch
einmal hoch und las das Etikett, drehte sie, um sie in die Kiste zurückzulegen,
nahm sie wieder heraus und las das Etikett noch einmal. Ganz unten stand in
großer Blockschrift:
ENTHÄLT SULFITE
Das Tageslicht begann zu schwinden, und
ohne die intensive Sonneneinstrahlung schien es tatsächlich ein bißchen kühler
zu sein. Wetzon vermeinte sogar eine leichte Brise zu spüren. Sie stellte sich
kurz an die 86. Street, aber es waren keine Taxis zu sehen.
Bei der knappen Zeit wäre es vermutlich am
besten, den IRT an der 86. und Broadway zu nehmen, der direkt zur Penn Station
fuhr. Wenn sie nicht auf einen Zug warten mußte, konnte sie es in zehn,
höchstens fünfzehn Minuten schaffen.
Das leise Dröhnen aus dem U-Bahn-Eingang verriet
ihr, daß ein Zug einfuhr. Falls es der Local war, der hier hielt, hätte sie
Glück. Sie kramte ungeschickt in der Handtasche nach einer Marke und sprang die
Treppe hinunter, wobei sie beinahe einen Bettler umgerannt hätte, der unten an
der Treppe mit einem Styroporbecher auf einem Pappkarton sein Geschäft eröffnet
hatte.
Ein Local fuhr langsam in die Station ein, und
am Schalter wartete eine Schlange. Sie würde es nie schaffen. Sie wußte, daß
eines der Drehkreuze eigensinnig war. Manchmal ließ es einen ohne Marke durch.
Sie schloß die Augen, sagte ein Gebet und stupste das Drehkreuz mit der Hüfte
an. Es gab nach, und sie stürzte durch und in den Zug, als das Bing-bong-Signal
anzeigte, daß sich die Türen schlossen.
Es war einer von den neuen Zügen — keine
Graffiti, kein starkes Fahrgeräusch und gut klimatisierte Luft — , und er war
überfüllt. Sie stellte sich zu den Leuten, die sich um eine Stange drängten,
und hielt sie fest... Sie ließ die Gedanken wandern. Dwayne wußte etwas...
»Ich brauche noch einen Dollar für eine Limo,
hört ihr?« schrie eine Frau vom hinteren Ende des Wagens. Ihre Stimme übertönte
die Gespräche und das Rattern des Zuges.
Wetzon sah sich um, konnte aber niemand zu der
Stimme entdecken. Ein junger Mann mit schulterlangem Haar hob den Kopf von
seinem Taschenbuch und runzelte die Stirn. »Was?« fragte er. Als keiner
antwortete, wandte er sich wieder seinem Buch zu.
»Nur einen Dollar«, sagte die Frau. »Ich möchte
eine Limo.«
»Ich auch«, rief jemand.
Gelächter kam im Wagen auf.
Die Frauenstimme kam näher. »Nur einen Dollar«,
wiederholte sie. »Nur einen Dollar.« Sie hatte sich noch keinen raffinierten
Text ausgedacht und war deshalb nicht sehr erfolgreich.
»Nur einen Dollar? Du, sie will einen Dollar.
Gib ihr einen Dollar, Mann.« Drei Teenager, zwei schwarz, einer weiß, stießen
sich gegenseitig an und brüllten vor Lachen.
Wetzon wandte den Kopf ab und starrte durch das Türfenster
in die Dunkelheit des U-Bahn-Tunnels. Dann und wann blitzten rote und gelbe
Lichter auf, dann hielten sie kurz in einer Station, um Fahrgäste auszuspeien
und noch mehr aufzunehmen, und fuhren wieder in den dunklen Tunnel. Der Zug kam
schnell voran.
Die bettelnde Frau sagte irgendwo hinter Wetzon
wieder: »Nur einen Dollar.« Sie war jetzt am vorderen Ende des Wagens, und
Wetzon hörte die Verbindungstür zum nächsten Wagen aufgehen. »Ihr geizigen
Schweine«, schrie die Frau, die den Wagen gerade verließ, als Wetzon
aufblickte, und sie sah eine ausgemergelte Schwarze in einem schmutzigen
Regenmantel und Gummisandalen.
Beklommene Stille senkte sich über den Wagen,
dann wurde eine Tür geöffnet, und eine Stimme vom hinteren Ende des Wagens
sagte: »Ich heiße Robert, meine Damen und Herren, und ich mache das noch nicht
lange. Ich bin Vietnam-Veteran. Ich bin ein Opfer von Agent Orange, ich habe
Krebs, ich verlor meinen Job, als ich krank wurde, meine Wohnung brannte ab,
und meine Frau kam im Feuer um. Ich und meine zwei kleinen Kinder, Robert
junior und Nancy Lou, leben in einem städtischen Obdachlosenheim zusammen mit
Drogensüchtigen und Irren. Können Sie mir helfen, aus dem Heim herauszukommen,
damit ich wieder auf eigenen Füßen
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