Tödliche Option
wie die, die nicht sehen wollen. Warte mal, was gibt es Neues... Nichts
Besonderes. Ich bin mit Mort Homberg im Gespräch, die Choreographie für sein
neues Musical zu machen.«
Wetzon blieb stehen und hielt ihn fest. »Nichts
Besonderes? Das ist Sensation!«
Wetzon und Carlos kannten sich seit Wetzons
erster Woche in New York, wohin sie gezogen war, um Tänzerin zu werden. Sie
hatten sich in einem Kurs kennengelernt und waren in Broadway-Musicals, auf
Tourneen und Sommergastspielen Partner gewesen. Sie hatten unter Gower
Champion, Bob Fosse, Michael Bennett und Ron Field gearbeitet, die alle
inzwischen tot waren. Als Gruppentänzer hatten sie eine Show nach der anderen
gemacht, von der Premiere bis zur letzten Vorstellung, bis Wetzon Smith
kennengelernt hatte. Die Begegnung fand an einem Punkt in Wetzons Leben statt,
als sie die Dreißig überschritten hatte und dachte, daß sie eigentlich keine
alternde Gruppentänzerin sein wollte. Sie war es leid, zu knausern und zu
sparen, leid, die Arbeitslosenversicherung zu zahlen und in einer winzigen
dunklen Wohnung fünf Treppen hoch zu wohnen.
Smith hatte vorgeschlagen, zusammen eine Firma
zu gründen, und Wetzon hatte zugehört. Das alles schien hundert Jahre her zu
sein. Jetzt waren sie die angesehensten, möglicherweise die besten Headhunter,
deren Revier Wall Street war. Wetzon hatte aus der fünf Treppen hohen
Mietwohnung ausziehen können und eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung in der West
86. Street gekauft.
Auch Carlos hatte die Zeichen der Zeit erkannt.
Er wußte, daß es nicht viele Rollen für alternde Tänzer gab, aber er hatte ein
Firma gegründet, während sie noch in der Tanzgruppe von 42nd Street auf
Zehenspitzen über den Broadway hüpften. Princely — nach Carlos Prince —
Service. Princely Service beschäftigte arbeitslose Künstler und war so
unglaublich erfolgreich, daß Carlos die Firma schon sehr bald von seiner
Wohnung in Greenwich Village aus leiten konnte und Tänzer in die ganze Stadt
ausschickte, um für Yuppies Wohnungen zu putzen, einzukaufen und das Abendessen
zu bereiten. Vor vier Jahren dann hatte Marshall Bart, der mit ihnen in der
Tanzgruppe begonnen hatte und Choreograph geworden war, Carlos eine Gelegenheit
geboten, weil Marshall auch die Aufgaben des Regisseurs übernommen hatte. Der
Rest war Geschichte. Carlos war wieder am Theater, jetzt voll als Choreograph,
und hatte einen anderen alten Tänzer engagiert, der für ihn Princely Service
leitete.
In der 74. Street lockte der Fairway-Markt sie
mit dem Duft reifer Erdbeeren für neunundneunzig Cent die Schachtel. Wetzon
kaufte zwei Schachteln und fand Carlos drinnen in der Käseabteilung, wo er sich
mit dem Mann hinter der Theke über Vermont-Käse unterhielt.
Sie stieß ihn mit dem Finger in die weiche Seite
unter dem Brustkorb. »Her mit der Aktentasche und Mund halten.«
Er reichte ihr die Aktentasche mit reglosem
Gesicht und hob die Hände. »Sie können Ihre Knarre wegstecken.«
»Das Amsterdam Festival ist am Sonntag. Willst
du kommen?
»Klar. Nach zwölf. Ich brauche meinen
Schönheitsschlaf.«
»Ich rufe dich an.« Sie küßte ihn auf den Nacken
und grinste über seinen gekünstelten Schauder. Er war ihr bester Freund. Er
brachte sie zum Lachen. Sie hatten viel Freude und Kummer geteilt — Kummer
besonders in letzter Zeit, wo jeden Tag einer, mit dem sie gearbeitet hatten,
an irgendeiner Form von Aids erkrankte.
Carlos warf ihr eine Kußhand zu.
Alles Gute und bleib gesund, dachte sie. Sie ging schräg hinüber zur
Amsterdam Avenue und kam bei Bad vorbei, wo Jerome Robbins mit dem Blick
zur Straße saß, las und ein Nudelgericht aß. Niemand kümmerte sich um ihn,
obwohl jeder wissen mußte, wer er war. Wetzon liebte die Upper West Side von
Manhattan. Es bestand so ein selbstverständliches gutnachbarliches Verhältnis —
leben und leben lassen, das war die Einstellung gegenüber den bekannten Persönlichkeiten,
selbst den Berühmten. Die Upper West Side hatte weder die Arroganz der East
Side noch das Selbstbewußtsein des Villages, sondern einen eigenen Charakter,
der weitgehend von Künstlern — Schauspielern, Tänzern, Musikern und
Schriftstellern — geprägt wurde. Sie hatten sich in den sechziger und siebziger
Jahren wegen der vernünftigen Mieten hier angesiedelt. Jetzt waren fast alle
Gebäude in Gemeinschaftsbesitz übergegangen, und es war eine feine Gegend
geworden mit teuren Eigentumswohnungen. Sogar ein Conran’s hatte
gegenüber von Zabar’s
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