Tödliche Pralinen
als er schon im Bett lag und schnarchte“, fuhr die Frau
fort. „Ich hab sie auf den Tisch gelegt, ohne zu ahnen... Ich wußte doch
nicht... Und mein armer Jeannot hat sie gegessen... Darüber... werd ich nie
hinwegkommen...“
Wieder flössen ihre Tränen in Strömen. Ich
begriff, daß aus ihr nichts mehr herauszuholen war. Eilig verabschiedete ich
mich mit ein paar gemurmelten Worten des Mitgefühls. Dann setzte ich meine
Beileidsbesuche fort und begab mich direkt zu den Béquets, den leidgeprüften
Eltern des „Affengesichts“.
Das Ehepaar war zu Hause in seiner hellen
Wohnung in dem dunklen Gebäude gleich neben einer Fabrik. Ferdinand Béquet
begrüßte mich erfreut, jedoch nicht überschwenglich. Der Tod seines Jungen
bedrückte ihn. Ich sagte, ich hätte von ihrem Unglück gehört, worauf Madame
Béquet sich in Tränen auflöste, ähnlich wie eben Madame Tanneur. Schluchzend
erzählte sie ergreifende Geschichten von ihrem Louis, rührende Erinnerungen.
Rührend für sie. Es half ihr über den Schmerz hinweg, sich die Gesten des
Kindes, des niedlichen Babys, ins Gedächtnis zu rufen. Beiläufig kam ich auf Jacques
Bressol zu sprechen.
„Louis arbeitete nur donnerstags und sonntags
mit ihm zusammen“, erklärte der Vater, „manchmal auch noch einen oder zwei
weitere Tage pro Woche. Er besuchte nämlich regelmäßig die Schule. Verdiente
nur etwas Geld hinzu, und es machte ihm Spaß. Wir sind nicht reich. Den Kleinen
machte es stolz, uns ein wenig helfen zu können.“
Ich erkundigte mich, ob Louis nicht zufällig
irgend etwas gegessen habe, das ihm nicht bekommen sei. Vielleicht Schokolade
oder Bonbons?
„Nicht, während wir mit ihm zusammenwaren“,
versicherte mir die Mutter. „Und was er hier im Haus gegessen hat, kann nicht
schlecht gewesen sein... Ganz sicher nicht! O Gott! Dabei hat er seine Suppe
mit so großem Appetit gegessen... und ein paar Stunden später war er tot!“
Und wieder nahmen die Tränen ihren Lauf. Auch
wenn es mir schwerfiel, mußte ich auf die Todesursache zu sprechen kommen. „Herzversagen“
habe der Arzt diagnostiziert.
„Wer hat den Totenschein ausgestellt?“ fragte
ich.
„Dr. Philippe Blouvette-Targuy.“
„Können Sie mir seine Adresse geben?“
„125, Avenue Jean-Jaurès. Gleich hier in der
Nähe. Aber...“ Ferdinand Béquet sah mich aus seinen traurigen, vom Weinen
geröteten Augen an. „Warum wollen Sie das alles wissen? Sie sind Detektiv
und... Warum fragen Sie das?“ Seine Stimme zitterte.
„Hören Sie“, erwiderte ich, „Sie wissen doch,
daß ich Ihnen viel zu verdanken habe. Ihr Sohn ist an Herzversagen gestorben...
oder an etwas anderem. Im allgemeinen bin ich nicht darauf aus, unseren
Scharfrichtern Arbeit zu verschaffen. Papa Deibler ist auch nicht mehr der
Jüngste. Aber falls Ihr Sohn an etwas anderem als an Herzversagen gestorben
ist, dann wird dem Saukerl, der ihn auf dem Gewissen hat, die Rübe abgehackt.
Das schwöre ich Ihnen!“
Monsieur Béquet wich entsetzt zurück, ganz
bleich im Gesicht.
„Um Himmels willen... Sie glauben doch nicht...“
„Kann sein, kann auch nicht sein“, sagte ich.
Madame Béquet sagte nichts. Sie weinte leise vor
sich hin. Nach den üblichen Fragen über eventuelle Feinde ihres Sohnes, auf die
ich keine brauchbare Antwort bekam, verabschiedete ich mich von dem Ehepaar.
Die beiden waren völlig am Boden zerstört. Ermodet! Vergiftet! Doch, ich habe
Talent, trauernde Hinterbliebene moralisch wieder aufzurichten!
* * *
Wenn man mich so sah und hörte, hätte man kaum
vermutet, daß mich Gewissensnöte plagten. Dazu kann ich nur sagen: Der Schein
trügt! Draußen auf der Straße sagte ich mir, daß ich vielleicht etwas weniger
brutal hätte vorgehen können. Mit anderen Worten, ich bekam Gewissensbisse.
Nicht sehr lange, doch genug, um mir den dritten Besuch, den ich mir in dieser
Gegend vorgenommen hatte, aus dem Kopf zu schlagen. Außerdem hatte ich Hunger.
Ich flüchtete schnell aus diesem tristen
Viertel, das durch die hereinbrechende Nacht nicht eben reizvoller wurde. An
der Ecke zur Rue Flammarion wartete ein leeres Taxi auf mich. Ich stieg ein und
fuhr zu meinem Stammlokal.
Als ich auf den Nachtisch wartete, trat Roger
Zavatter an meinen Tisch.
„Ein Glas Rotwein?“ fragte ich ihn, nachdem er
sich gesetzt hatte.
„Ein Vichy“, bestellte er mit schwerer Zunge.
Die Serviererin stellte ein Teilerchen mit einer
Banane und eine Flasche Mineralwasser auf das etwas angegriffene
Weitere Kostenlose Bücher