Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
gefühlt. Nicht der Aufstieg – der
Abstieg ist das Gefährliche.«
Erst unten
in der Hütte bei heißem Tee und pasta asciutta wurde ihr bewusst, dass sie
ebenso gut mit zerschmetterten Gliedern irgendwo im Abgrund hätte liegen können.
Mit schweren Verletzungen, vermutlich tot. Sie realisierte erst jetzt, in welcher
Gefahr sie gewesen war. Wer oder was hatte ihr geholfen, sie gerettet? Ein Schutzengel?
Im Nachhinein nahm ihr die ausgestandene Angst den Atem, und sie brachte das Zittern,
das sie nun im ganzen Körper spürte, lange kaum mehr weg und fühlte sich erschöpft.
Doch sie wollte die Eltern nicht beunruhigen und versuchte, den Vorfall zu bagatellisieren.
Eine kleine Unachtsamkeit, und schon sei sie auf dem glitschigen, mit Schnee bedeckten
Abhang ausgerutscht, doch habe sie schnell wieder Tritt gefasst, behauptete sie.
Es sei ihr eine Lehre für die folgenden Klettertouren. Ja, natürlich, sie werde
in Zukunft noch besser aufpassen, noch vorsichtiger sein, sie habe Glück gehabt.
»Alex hat mir ins Gewissen geredet, er passt gut auf mich auf, das wisst ihr doch«,
betonte sie.
Am späten Nachmittag löffelten sie
alle Fruchteis in einer Gartenwirtschaft in Bozen auf dem Waltherplatz, nach dem
Minnedichter Walther von der Vogelweide benannt. Die Gespräche drehten sich, wie
fast immer, um die Berge.
Das gewaltige Massiv des Rosengartens leuchtete später bei der Heimfahrt
wie jeden Abend auf, denn das schräg einfallende Licht der Sonne verlieh dem
vulkanischen Kalkstein eine rote Färbung. Es sah tatsächlich
aus wie echte Rosen in einem Garten, die König Laurin aus Trauer über den Verlust
der Prinzessin Tarina in Stein verwandelt hatte.
Eva wurde still und dachte immer wieder: Wie schön das Leben ist. Ich
lebe, ich will leben.
Den ganzen Sommer über, immer wieder, flog sie jedoch in Alpträumen
über die Schneefläche in die Tiefe und erwachte jeweils mit Herzklopfen und Angstgefühlen.
– Erstaunlicherweise sagte ihr Jahre später eine Wahrsagerin auf den Kopf zu, sie
sei einmal in den Bergen in Lebensgefahr gewesen. Das hatte sie längst vergessen,
verdrängt gehabt.
Viel später las sie in der »Kletterschule«
von Cesare Maestri nach, wie man korrekt durch einen Kamin klettert. Zwei Techniken
waren beschrieben: die Spreiztechnik und die Stemmtechnik, und auf den Fotos sah
beides eher schwierig aus.
Wichtig
sei es, so der Autor, den Abstieg im Kamin immer mit tief gehaltenen Händen auszuführen,
damit die ganze Länge des Körpers in jeder Abstiegsphase ausgenutzt werden könne.
Das wusste
sie damals nicht. Alex hatte es ihr nicht beigebracht, ihr nichts erklärt. Er dachte
kaum je daran, dass sie keine Erfahrung im Klettern besaß und er auf sie doppelt
hätte Rücksicht nehmen sollen: als Anfängerin und als Frau, die nicht über dieselbe
physische Kraft verfügte wie er. Und sie suchte den Fehler bei sich, machte sich
Vorwürfe wegen ihrer Nachlässigkeit und Unvorsichtigkeit – und gab sich den ganzen
Sommer immer wieder besondere Mühe, Alex nachzueifern, keine Schwäche zu zeigen,
stark und draufgängerisch zu sein, wie er es von ihr erwartete.
Tita (Gianbattista) Piaz aus dem
Fassatal wird auch der »Teufel der Dolomiten« genannt. Er war eine einzigartige
Erscheinung im Alpinismus, mit niemandem vergleichbar. Ein Mensch mit viel Fantasie,
ein Exzentriker, sogar ein Poet.
Als Kind soll er einmal einem Vogel bis hinauf auf einen Berggipfel
gefolgt sein. Oben angelangt, flog der Vogel davon, und der Junge stand dort, übertölpelt,
aber trotzdem glücklich, der »normalen« Welt entronnen zu sein.
Er schrieb, er könne nicht sagen, wann er angefangen habe zu klettern,
es komme ihm vor, als sei er als Affe geboren worden und habe sein ganzes Leben
lang nichts anderes getan als zu klettern.
Kinder fürchteten sich vor ihm, denn er soll ausnehmend hässlich gewesen
sein, und alte Frauen schlugen das Kreuz, wenn er vorbeiging.
Der Kesselkogel war einer der ersten Berge, die Tita in seiner Jugend
bestieg. Er hatte gehört, es sei keine schwierige Tour, und oben auf dem Gipfel
gebe es sogar eine Quelle. Auf 3000 Meter Höhe eine Quelle? Es klang wie ein Märchen,
und er wollte unbedingt herausfinden, ob es stimmte. Er hatte keine Ruhe mehr, er musste den Berg bezwingen.
Als Proviant hatte er nur zwei Stück Brot bei sich, als alpinistische
Ausrüstung weder ein Seil noch einen Pickel, und er war nicht einmal sicher, ob
er sich auf dem Weg zum richtigen Gipfel befand.
Weitere Kostenlose Bücher