Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
nächsten Griff oder Tritt suchen.
Arm oder
Bein bewegen und auf den neuen Griff oder Tritt setzen.
Dann erst
den Körper bewegen, den Schwerpunkt verlagern und wieder eine stabile Position einnehmen.
Sorgfältig
ließ sie das dicke Seil Meter um Meter durch ihre Hände gleiten, während sie am
Felsen gesichert stand.
»Noch 15
Meter – zehn Meter – fünf Meter …«, meldete sie Alex nach oben, und dann hatte sie
ihn auf einmal ganz aus den Augen verloren. Endlich war das Seil straff. Alex, der
sich nun seinerseits gesichert hatte, rief ihr zu: »Nachkommen.«
Konzentriert
begann Eva, sich mit Händen und Füßen hinaufzuschieben. Plötzlich fühlte sie sich
wie mitgezogen, sicher am Seil, nicht allein in der Wand. Es war ein schönes Gefühl,
mit Alex am gleichen Seil die Wand langsam zu erobern und zu wissen, dass sie sich
gegenseitig sicherten, unterstützten, kontrollierten, einen gemeinsamen Rhythmus
fanden und immer höher hinaufgelangten. Zeit blieb ihr nicht, in die Tiefe zu blicken.
Der Abgrund hatte nichts Beängstigendes mehr – und sie fühlte sich schwindelfrei.
Gott sei Dank.
Nach intensiver
Kletterei – es musste etwa eine Stunde vergangen sein –, brach unerwartet ein Gewitter
aus.
»Schnell!
Wir müssen sobald wie möglich aus der Wand aussteigen, die Eisenstangen sind gefährlich,
wenn es blitzt. Zurück können wir nicht, wir müssen weiter oben die Grasmulden erreichen
und dann quer hinüber zur Normalroute abbiegen«, rief Alex ihr zu.
Zum Glück
hatte sie inzwischen etwas mehr Selbstvertrauen gewonnen, denn nun folgten einige
angstvolle Momente. Innert weniger Minuten waren sie beide von Kopf bis Fuß durchnässt.
Regen und Hagelkörner schnitten schmerzhaft ins Gesicht, der Fels wurde rasch glitschig,
Füße und Hände fanden kaum mehr Halt. Eva kämpfte sich Zentimeter um Zentimeter
vorsichtig vorwärts. Sekundenlang schien ihr, als schwebe sie am Seil über dem Abgrund,
habe den Boden unter den Füßen verloren. Dann stand sie auf einmal oben, wo ein
Pfad quer über die Felsen zu einer Schutzhütte abbog.
Eine halbe
Stunde später fanden sie im rifugio Zuflucht und konnten sich aufwärmen und
die Kleider trocknen. Später hüpften sie übermütig über die Felsblöcke ins Grödner
Tal hinunter.
Wie hätte sich Alex verhalten, wenn
Eva nicht schwindelfrei gewesen wäre, wenn sie die Angst vor dem Klettern und die
Furcht vor weiteren Stürzen nicht überwunden hätte? Die Frage stellte sich damals
nicht. Sicher wäre er die ganze Zeit allein oder mit seinen Bekannten losgezogen,
und die Freundin hätte unten im Tal auf ihn warten müssen und sich ausgeschlossen
gefühlt.
Ein ganzer
Sommer ohne gemeinsame Bergerlebnisse? Undenkbar. Sie hätten sich vermutlich schnell
auseinander gelebt, keine gemeinsame Basis gefunden. Eva wäre bald einmal abgereist,
allein. Ein dramatischer Abgang nach Vorwürfen und heftigem Streit? Wohl kaum. Eher
wäre es ein stiller, trauriger Abschied geworden.
Doch genau
eine solche Situation wollte sie unter allen Umständen vermeiden, ihre Liebe sollte
nicht am Berg scheitern.
Das Klettern
begann ihr jedoch immer mehr Spaß zu machen. Wie relativ Zeit sein konnte, erlebte
sie jedes Mal neu. Sie verlor jegliches Zeitgefühl in einer Wand, wusste nie, ob
sie Minuten oder schon Stunden unterwegs waren, so intensiv erlebte sie jeden Moment.
Alles andere außer der Wand, in der sie standen oder hingen, schien wie ausgelöscht.
Das war nur vergleichbar mit dem fast rauschhaften Zustand, in den man gerät, wenn
man beim Schreiben, Musikmachen oder bei sonst einer intensiven kreativen Arbeit
alles um sich vergisst.
Am Anfang litt Eva unter starkem
Muskelkater und hatte große Blasen an den Füßen, wenn sie abends die Schuhe auszog.
Tagelang humpelte sie herum und verbiss die Schmerzen. Sie konnte kaum mehr richtig
gehen. Pflaster, Salben, Vitamin C – alles nützte nichts, und pflegende Fußbäder
konnte sie keine nehmen. Das Schlimmste war jeweils am nächsten Tag der kurze Weg
vom Auto bis zur Kletterwand. Sobald sie am Seil hing und Griffe und Tritte suchte,
vergaß sie die Schmerzen, weil sie sich derart konzentrieren musste. Zudem benützt
man beim Klettern nur die Fußspitzen, nicht den ganzen Fuß.
Der Abstieg,
dem Abgrund zugekehrt, machte ihr jedes Mal weit mehr Mühe als der Aufstieg, und
manchmal konnte sie Alex auf dem Rückweg, wenn er mit seinen langen Beinen forsch
ausschritt, kaum mehr folgen.
Sich anpassen. Ein uraltes
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