Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
Die Quelle fand er nicht. Beim
Abstieg fühlte er sich auf einmal entsetzlich allein und verloren und befürchtete,
er habe sich verirrt. Verzweifelt kniete er in einer Felsspalte nieder und betete
mit seinem Kinderglauben zur Muttergottes, sie solle ihm helfen, den Weg ins Tal
zu finden. Er hatte Angst, grässliche Angst.
Erst viele Jahre später verstand er diese Angst, die verschiedene Gründe
hatte: die Ungewissheit, ob dies wirklich die normale Wand des Kesselkogels war;
die Befürchtung, sich verirrt zu haben und nie mehr herunterzukommen; das Erlebnis
totaler Einsamkeit, denn in jener Zeit kam monatelang keine Menschenseele ins Vajolet-Tal.
Und schließlich die Angst vor dem Abgrund.
Das war 1896.
Tita Piaz war gar nicht hässlich,
stellte Eva fest, als sie auf ein Foto von ihm stieß. Er hatte ein interessantes,
kühnes Gesicht mit tiefen Furchen und einem Grübchen im Kinn.
In seinem
Tagebuch schrieb er nach einem Absturz, den er überlebte: »Meinetwegen mag ich an
der Maul- und Klauenseuche, an der Beulenpest oder am Kindbettfieber sterben, niemals
aber an einem Absturz, an dem ich selbst schuld bin.«
Tatsächlich
kam er dann nicht in den Bergen ums Leben, sondern durch einen banalen Unfall. Er
stürzte mit seinem Fahrrad, fiel in einen Brunnen, wurde bewusstlos – und ertrank!
In seinem Keller fand man nach seinem Tod unzählige Rettungsmedaillen, die er achtlos
weggeworfen hatte. Er rettete Hunderte von Menschen und kämpfte in Italien für ein
alpines, organisiertes Rettungswesen, wie es das in andern Ländern längst gab. Während
der faschistischen Diktatur wurde er wegen seiner politischen Meinung einige Jahre
inhaftiert.
5
Am Abend nach der Besteigung des
Kesselkogels sagte Alex auf einmal überraschend: »Meine Mutter und Tiziano, mein
jüngerer Bruder, kommen morgen von Rom nach Seis herauf. Wir werden sie zum Abendessen
treffen. In der Pension ›Erika‹, wo Mama immer absteigt.«
»Meinst
du, sie wird mich mögen?«
»Sicher«,
meinte er, gab dann jedoch zu, seine Mutter sei etwas schwierig, ziemlich empfindlich
und außerdem überaus ängstlich und übertrieben besorgt um ihre längst erwachsenen
Söhne. Sie sei herzkrank und müsse sich erholen, sich schonen, sie werde deshalb
von einer Bekannten, einer Krankenschwester, begleitet und betreut. Sie habe einige
von Evas Briefen gelesen und freue sich, sie endlich kennen zu lernen.
»Du hast
ihr meine Briefe zu lesen gegeben?« Eva war entsetzt, dass er ihre Liebesbriefe
einfach so preisgegeben hatte.
»Nur zwei,
drei. So hat sie gleich einen Eindruck von dir bekommen«, versuchte er sie zu beschwichtigen.
Am nächsten
Tag waren sie dauernd unterwegs, und Eva kam nicht dazu, wie geplant noch zum Friseur
zu gehen oder wenigstens irgendwo in der Toilette eines Gasthofs die Haare zu waschen.
Sie mussten sich beeilen, rechtzeitig in der Pension »Erika« zu sein.
Eva trug
immer noch ihre inzwischen bereits sehr abgetragenen Kletterhosen und einen verfilzten
Pullover, fühlte sich ungepflegt und deshalb eher unsicher. Sie hatte keine Gelegenheit
gehabt, sich wenigstens im Völser Weiher zu waschen und sich umzuziehen. Alex lachte
sie aus wegen ihrer »weiblichen Anwandlungen«, wie er dies nannte.
Eva erschrak
ein bisschen, als seine Mutter, eine schlanke, elegante Erscheinung, eine richtige
Dame, mit ausgestreckten Armen auf sie zukam. Sie war äußerst liebenswürdig, ja
herzlich – und sichtlich erfreut, dass ihr Jüngster endlich eine feste Freundin
gefunden hatte und sich einige Wochen in den Dolomiten von den Strapazen in der
Wüste erholen konnte. Ihre Begleiterin und Betreuerin, Schwester Anna, war eine
zurückhaltende Frau mit klugen Augen. Alex verhielt sich seiner Mutter gegenüber
eher abweisend, kurz angebunden und erzählte kaum etwas Persönliches. Tiziano, den
Eva gern kennen gelernt hätte, rief leider im letzten Moment an, er sei aus beruflichen
Gründen verhindert.
Da Evas Eltern noch einige Tage
in Südtirol verbrachten, kam es bald zu einem »Familientreffen«. Alex’ Mutter sprach
von da an immer nur von »unseren Kindern«, womit sie Alex und Eva meinte. Und als
Evas Eltern abreisten, dauerte es nicht lange, bis ein Brief samt Schweizer Schokolade
für Alex’ Mutter in der Pension »Erika« eintraf. Eva hätte sie sich als zukünftige
Schwiegermutter gut vorstellen können.
Die erste richtige Klettertour.
Sie fuhren mit dem Auto zuerst auf den Grödner-Pass. Felsen, Zacken, Türme.
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