Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
einer
Welle Angst überrollt. Sie hatte sich noch nicht von den Strapazen des Vortags erholt,
hatte kaum geschlafen, zitterte vor Kälte und begann, sich vor dem Abgrund, den
man im Nebel nicht sah, nur erahnte, zu fürchten. Sie war auch nicht gewohnt, mit
den Steigeisen auf dem vereisten Fels zu klettern, und die Befehle und Ratschläge
von Alex, vor allem die Ungeduld in seiner Stimme, gaben ihr den Rest.
Francesco,
der sich strikt geweigert hatte, die Steigeisen zu benützen, machte ebenfalls einen
unsicheren Eindruck und fand kaum Halt mit den Schuhen. Evas wollene Ersatzhandschuhe
waren rasch durchlöchert, und ihre Hände wurden eiskalt, sodass sie wieder die noch
feuchten Lederhandschuhe anzog und zwischendurch versuchte, die Finger, die sie
kaum mehr spürte, zu massieren. Francesco hatte dieselben Schwierigkeiten, und beide
erinnerten sich daran, wie Mario sich auf der letzten Hochtour Erfrierungen zweiten
Grades zugezogen hatte.
Während
Alex eine Traverse überquerte, langsam, vorsichtig, Schritt für Schritt, mussten
sie einige Minuten warten und ihn sichern, standen dem Wind voll ausgesetzt in der
Wand und froren erbärmlich.
»Francesco,
ich habe Angst«, gab Eva zu.
»Glaubst
du, ich etwa nicht? Ich befürchte vor allem, meine Hände könnten erfrieren. Irgendwie
müssen wir da durch. Zu zweit schaffen wir es. Ich helfe dir. Ich bin da. Gib nicht
auf.«
Meter um
Meter rückten sie in die Tiefe vor. Die schreckliche Wand wollte kein Ende nehmen.
Eva kam wiederholt die überhängende Eigernordwand in den Sinn, die ihr schon als
Kind Angst eingejagt hatte. Alex verlor immer wieder die Geduld mit seiner Seilschaft
und schrie beide, Francesco und Eva, unbeherrscht an: »Macht nicht so ein Theater!
Vorwärts, rascher, sonst erfrieren wir hier!«
Er war kein
guter Psychologe, er machte den beiden nur noch mehr Angst. Und auf einmal hasste
Eva ihn. Sie verwünschte die steile, eisige Wand und alle Berge. Dieses Absteigen
in die Tiefe war weit schlimmer als der Aufstieg im Schneesturm, unmenschlich schien
es ihr, ein sinnloses Leiden in grenzenloser Furcht. Die aufgestaute Wut gegen Alex
vorne am Seil und gegen diese letzte, diese allerletzte Hochtour, die unbedingt
noch hatte gemacht werden müssen, gab ihr neue Energie, und endlich führte die Spur
der Vorhut, der sie gefolgt waren, über Schneehänge hinunter auf den Gletscher.
Der Nebel lichtete sich ein wenig, es hörte auf zu schneien. Der weitere Abstieg
ohne Seil war geradezu ein Kinderspiel, obwohl er noch mehrere Stunden dauerte.
Kurz vor
der Marinelli-Hütte begann es, in Strömen zu regnen. Immer noch lagen ganze vier
Stunden Weg vor ihnen. Die Nässe jetzt bei Temperaturen über Null Grad Celsius konnte
ihnen nichts mehr anhaben, sie begannen beim raschen Gehen sogar zu schwitzen. Plötzlich
brach ein gewaltiges Gewitter los, und Eva versuchte, den Pickel unter der Regenjacke
zu verstecken, weil sie befürchtete, der Blitz könnte einschlagen.
Alex ging
voraus, weit voraus, und verschwand im Wald. War er denn nie müde? Die beiden anderen
konnten ihm beim besten Willen nicht mehr folgen und blieben immer weiter zurück.
Eva begann
unterwegs, über Alex nachzudenken. Er hatte sie und Francesco zwar gerettet, er
hatte im Schneesturm wie ein Hund den Weg zur Hütte gefunden, ohne ihn wären sie
verloren gewesen, lägen in einer Gletscherspalte, irgendwo im Abgrund, und man hätte
sie wohl kaum retten können. Aber als Bergführer hatte Alex versagt. Er war der
Einzelgänger geblieben, ein typischer Alleingänger, ohne Mitleid, ohne Verständnis
für die Schwächeren. Ihre Bewunderung für ihn war schlagartig verschwunden. Sie
sah ihn zum ersten Mal klar, verglich ihn mit seinem besten Freund. Mit Francesco,
der Rücksicht auf sie genommen hatte und immer noch nahm, der sie ermutigt und nicht
allein gelassen hatte. Daneben Alex: unfähig, rücksichtsvoll zu sein oder sich in
andere einzufühlen. Alex, der immer nur forderte und nichts gab, kein wirklicher
Partner. Francesco, den sie erst jetzt auf dieser Hochtour näher kennengelernt hatte,
stand ihr eigentlich näher als Alex.
»Eva, was
ist los mit dir? Du bist so still? Bist du erschöpft?«, erkundigte sich Francesco.
»Ich muss
nachdenken. In den letzten Stunden ist mir vieles klar geworden. Ich bin froh, dass
du mitgekommen bist. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Du hast mir das Leben
gerettet, nicht Alex.«
»Ach, dasselbe
kann ich von dir sagen. Wir haben uns gegenseitig
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