Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
es nicht auf zu schneien, und die Männer sind dem Schnee ausgeliefert,
wie gefangen unter einer dicken, stummen Decke aus weißen Flocken.
Ja, ein
Bett aus weichem Schnee wünschte sie sich herbei, in das sie sich fallen lassen
und alles vergessen konnte, nichts anderes, und einen Moment war ihr alles andere
egal. Nur schlafen, ruhen …
Zwei, drei
Mal stieß Alex auf markierte Stangen – wie auf Orientierungsbojen in einem sturmgepeitschten
Meer. Waren sie auf dem richtigen Weg? Er schrie etwas. Eva verstand nichts, es
kümmerte sie nicht, sie wollte nur in Ruhe gelassen werden, aber sie war fest am
Seil angebunden, an dem sie weitergezogen wurde …
Plötzlich
– einer Fata Morgana ähnlich – tauchten schwach die Umrisse einer kleinen Hütte
wenige Meter vor ihnen auf. Alex blieb stehen, warf die Arme siegesbewusst in die
Höhe und schrie: »Marc e Rosa!«
Sie waren
gerettet! Ein Glückstaumel erfasste jäh alle drei. Sie rannten auf die Schutzhütte
zu, so gut das im Tiefschnee ging, schrieen durcheinander, und Eva wusste nachher
nicht, ob sie gelacht oder geweint hatte. Der alte Giovanni, seit über zehn Jahren
Hüttenwart, nahm sie in Empfang, drückte Eva sanft auf die Holzbank am Eingang und
löste ihr behutsam und liebevoll wie einem kleinen Kind die festgefrorenen Steigeisen
von den Schuhen und half ihr aus den nassen Kleidern.
Bald saßen
sie in der Wärme um einen Tisch, in Sicherheit, und löffelten heißhungrig eine dicke,
wunderbar schmeckende Minestrone. Eva war von einer unsagbaren Freude erfüllt, zu
leben, nicht abgestürzt zu sein, nicht erfrieren zu müssen! Die kleine, einfache
Hütte – ein einziger Raum, ohne Toilette, ohne Waschgelegenheit – war das Paradies
auf Erden. Sie hätte in ihrer Euphorie für immer dort bleiben, nie mehr hinuntersteigen
mögen.
Sie waren
nicht die einzige Seilschaft, die im Marc e Rosa-Rifugio Zuflucht vor dem unerwartet
heftigen Schneesturm gefunden hatte. Alpinisten aus mehreren Ländern diskutierten
erregt über das Wetter und ob man am nächsten Morgen den Abstieg wagen könne. Später
lagen alle oben im Gemeinschaftsschlafraum auf den einfachen Pritschen, in warme
Wolldecken gehüllt. Draußen heulte der Sturm weiter.
Alex schlief
sofort tief. Eva konnte wie in der Nacht zuvor lange nicht einschlafen, sie war
zu erschöpft, zu aufgewühlt, außer sich vor Glück und Dankbarkeit. Sie lebten, sie
mussten die Nacht nicht irgendwo draußen in der Kälte auf dem Gletscher in einem
Biwak verbringen, bis zu den Hüften im Schnee eingegraben, sie hatten alle Mühsal
überstanden, waren in Sicherheit, im Schutz der Hütte, im Trockenen, in der Wärme!
Auch Francesco zu ihrer Linken drehte sich von einer Seite auf die andere.
»Bist du
wach?«, fragte er einmal leise, nahm ihre Hand und drückte sie kurz, dann war auch
er eingeschlafen. Nichts als tiefe Atemzüge und leises Schnarchen um sie herum.
Eva lag
stundenlang wach und hörte zu, wie der Sturm um die Hütte heulte, und es tönte wie
das Klagelied der Diavolezza.
Tagwacht, viel zu früh. Es war noch
dunkel. Einige Italiener und Österreicher frühstückten bereits, es roch nach Kaffee
und Kakao. An ein Besteigen der Bernina war allerdings nicht zu denken. Wenn jemand
es wagte, aus der Hütte zu treten, kam er schneebedeckt zurück und meldete Nebel,
Neuschnee, starken Wind.
Ein sympathisches
Chemikerehepaar mit Führer entschloss sich, noch ein, zwei Tage in der Hütte abzuwarten,
bis das Wetter sich besserte. Die Italiener, die früh morgens startbereit gewesen
waren, verzichteten darauf, die Vorhut zu bilden und setzten sich lieber an den
sicheren Tisch zum Kartenspiel. Erst gegen Mittag zog die erste Gruppe Alpinisten
los, Deutsche und Österreicher. Nach langen Beratungen waren sie sich einig geworden,
vorerst in die Marinelli-Hütte auf 2159 Meter abzusteigen, wo sie, falls nötig,
übernachten konnten. Alex fand die Idee gut. Er meldete Roberto durch Funk, er solle
abends mit Francescos Auto auf der italienischen Seite auf sie warten, und wenig
später brachen auch sie Richtung Marinelli-Hütte auf.
Schuhe und
Kleider waren immer noch feucht. Es brauchte ungeheure Überwindung, die warme, geschützte
Hütte zu verlassen und sich Wind, Nebel und Kälte auszusetzen. Direkt neben der
Hütte ging es steil in die Tiefe.
Der Abstieg
über vereiste Felsen, wo man immer wieder mit Händen und Füßen abrutschte, wurde
zur Qual. Die Pickel sanken tief im Neuschnee ein. Eva wurde plötzlich von
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