Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
immer, vielleicht noch sicherer als sonst, aber es gelang ihm
nicht, ihr ein Gefühl von Vertrauen zu geben.
Immer wieder
fragte sie sich: Hat Alex Francesco und mich völlig vergessen? Sieht er nicht, dass
wir am Ende sind? Sie kämpfte mit letzter Kraft, um nicht hinter den beiden Männern
zurückzubleiben und klammerte sich ans Seil. Ab und zu sagte sie halblaut zu sich:
Ich kann nicht mehr. Nicht so schnell, bitte nicht so schnell, ich komme nicht mehr
nach! Lasst mich einen Moment Atem holen! Wenn Francesco sich zuweilen besorgt nach
ihr umdrehte, biss sie sich auf die Lippen, nickte und versprach: »Ja, ich komme.«
Die Angst,
abzustürzen, hatte sie bereits überwunden, die war nicht mehr wichtig. Sie wusste
aus Erfahrung, dass man sich Alex in den Bergen anvertrauen konnte. Sie glaubte
an ihn, war trotz aller Gefahr sicher, er würde seine Seilschaft an den im Schnee
nicht mehr sichtbaren Gletscherspalten vorbei zur Hütte führen. Sie bewunderte,
wie er sich den Weg erzwang, Schritt um Schritt. Aber er schien weit weg, unerreichbar,
der Sieger, der einsame Kämpfer. Und sie blieb mit Francesco mehr und mehr zurück,
und nun war es auf einmal Francesco, der ihr Mut und Kraft zum Weitergehen gab:
mit einem besorgten Blick, wenn das Seil zwischen ihnen länger wurde, mit einem
halblauten Wort, das sie zwar nicht verstand, das sie jedoch tröstete, mit einem
angedeuteten Lächeln im vom Schneesturm abgewandten Gesicht, aus dem nur die Augen
hervorschauten.
Leben wir
noch, oder ist das schon der Weg in den Tod? dachte Eva. Werden wir biwakieren müssen,
werden wir erfrieren? Versinken in der weißen Unendlichkeit oder lautlos in eine
tiefe Gletscherspalte fallen? Aus eigener Kraft hätte sie sich nicht mehr retten
können. Sie wurde immer apathischer und stellte nach einer Weile keine Fragen mehr.
Es würde kommen, wie es kommen musste. Zugleich war ihr auf einmal bewusst, dass
sie das Leben liebte und die Menschen, mit denen sie zusammen unterwegs war. Eigentlich
liebte sie vor allem Francesco, der eine Seillänge vor ihr ging. Er war verheiratet,
und sie hätte sich normalerweise ihre Zuneigung zu ihm nie eingestanden, nicht einmal
bemerkt. Jetzt würden sie zusammen umkommen. In der Kälte, im Schnee. Es brauchte
keine Worte zwischen ihnen, keine Zärtlichkeit, nur das gemeinsame Erleben des scheinbar
nicht enden wollenden Vorwärtsgehens durch den Sturm, das ihr vorkam wie eine Ewigkeit
und in Wirklichkeit nur einige wenige Stunden dauerte. Francesco mit ihr am gleichen
Seil in der gleichen Kälte, im unheimlichen Heulen und Klagen des Windes, ebenso
erschöpft wie sie. Nur dieser Gedanke gab ihr die Energie, weiterzustapfen, nicht
stehen zu bleiben.
Eva hatte
längst jedes Zeitgefühl verloren. Wurde es nicht schon Abend? Wann würde es ganz
dunkel sein? Würden sie – wie die Kinder, die sich in Adalbert Stifters Geschichte
»Bergkristall« im Schneetreiben verirrten – die Nacht unter Steinbrocken am Rand
des Gletschers verbringen müssen?
In Gedanken
nahm sie das Biwak in allen Einzelheiten voraus. Sie würde sich in den Schnee eingraben,
die eiskalten Füße in den Rucksack stecken, versuchen, sich zu wärmen, nahm sie
sich vor. Nein, sie wollte nicht Erfrierungen davontragen, sie befanden sich hier
nicht am Mount Everest, obwohl die Kälte ebenso unerträglich war wie auf einem Achttausender.
Immer stärker wurde der Wunsch in ihr, sich einfach in den weichen Schnee legen
zu dürfen, die Augen zu schließen und zu schlafen, Ruhe zu haben, nichts mehr zu
spüren …
Auch dieses
gefährliche Verlangen nach Ruhe im Schnee ließ sie auf einmal an ein Buch denken,
das sie vor Jahren gelesen und vergessen hatte, doch jetzt schien die Stimmung,
die sie bei der Lektüre empfunden hatte, erneut bedrohlich aus dem Nebel aufzusteigen.
Eine Novelle von Guy de Maupassant, »L’auberge« (Das Gasthaus), 1886 erschienen,
die am Gemmipass in den Walliser Bergen, also in der Schweiz, spielt. Maupassant
war Jahre zuvor im Sommer als junger Mann von Thun über den Gemmipass gewandert,
um in Leukerbad zu kuren, die Gegend musste ihn beeindruckt und inspiriert haben.
In dieser schauerlichen Geschichte von Verlorenheit und Einsamkeit in Eiseskälte
und Finsternis kommt eine Herberge vor, die fast im Schnee versinkt; zwei Männer,
beide Bergführer, und ein Hund bleiben zurück, um während des harten, dunklen Winters
dort auszuharren, während sich die Besitzerfamilie nach Leukerbad hinunter begibt.
Tagelang hört
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