Tödliche Seilschaft: Roman (German Edition)
ganzen Sommer lang erholen können oder sollen – und kann sich immer noch nicht
beherrschen, ging ihr durch den Kopf. Hat er denn keinen Humor?
Sie versuchte
einmal mehr, ihn zu beruhigen. Erst auf dem Parkplatz bei der Diavolezza-Bahn in
Pontresina hatte er sich wieder gefangen und konzentrierte sich auf die Vorbereitungen
für die Hochtour. Obwohl die Sonne schien, gefiel ihm das Wetter nicht. Er diskutierte
lange mit zwei einheimischen Bergführern und beschloss, sofort aufzubrechen. Die
Marc e Rosa-Hütte auf immerhin 3597 Meter müssten sie unbedingt noch bei Tageslicht
erreichen, in sechs Stunden sei das zu schaffen. Am nächsten Morgen würden sie nach
einem kurzen, etwa zweistündigen Aufstieg auf dem Gipfel der Bernina, dem Piz Bernina,
auf 4049 Meter stehen, versprach er.
Ringsum Gletscher und Gipfel, nicht
weniger als acht Drei- und Viertausender des Berninamassivs mit Firnen und Eisgraten.
Dass Diavolezza »die schöne Teufelin« hieß, merkte Eva nicht, und zum Glück auch
nicht, dass der Munt Pers »verlorener Berg« bedeutet, und der Sage nach mehr als
ein Jäger der schönen Bergfee, die dort oben in einer Felsenburg hauste, gefolgt
und für immer verschwunden war: am Munt Pers abgestürzt oder in die Brüche des Morteratschgletschers
gefallen. Bei den ersten Schneefeldern galt es, die Steigeisen an den Schuhen zu
befestigen, was bei ihr, wie üblich, ein kleines Drama auslöste; sie hatte zu wenig
Kraft in den kalten Fingern. Francesco half ihr geduldig.
Alex ging
voran, Francesco folgte, dann kam Eva. Roberto, der stiller schien als sonst und
mühsam atmete, machte den Schluss und blieb immer wieder stehen.
»In meine
Schuhe ist Wasser eingedrungen. Ich habe kalte Füße, ich glaube, es ist besser,
wenn ich aufgebe und zurückgehe, es ist nicht mein Tag«, rief er plötzlich.
Was war
mit ihm los? Er sah bleich aus und wirkte unsicher. Fühlte er sich nicht gut? Merkte
er, dass seine Kondition und seine alpinistischen Kenntnisse nicht ausreichten für
diese anspruchsvolle Tour? Die nassen Schuhe waren offenbar nur ein Vorwand. Konnte
man ihn jedoch allein absteigen lassen?
Er schlug
jede Begleitung aus und erklärte, er wolle kein Spielverderber sein. »Es ist einfacher
für euch ohne mich, ihr kommt sonst nicht rasch genug voran.« Der Spur rückwärts
zu folgen war hier noch leicht, später hätte es kein Zurück mehr gegeben. Sie umarmten
ihn zum Abschied und stiegen sofort weiter. Bald sahen sie nur noch einen kleinen
dunklen Flecken auf dem Schnee tief unten: Roberto.
Kurze Zeit
später bemerkte nun auch Eva zum ersten Mal eine fast schwarze Wolkenschicht, die
am Horizont bedrohlich näher rückte. Einige schwierige Stellen im Fels folgten.
Sie musste sich auf jeden Tritt, jeden Handgriff konzentrieren. Alex kletterte voran
und sicherte Francesco und Eva. Die Dreitausendergrenze hatten sie längst überschritten.
In wenigen Minuten würden sie auf dem fast 4000 Meter hohen Bellavista-Grat stehen
und die von Alex versprochene eindrucksvolle Fernsicht genießen können. Doch von
einem Augenblick zum andern hüllte Nebel alles ein, und es begann sogar leicht zu
schneien. Alex stieg gleichmäßig weiter, ohne viele Worte zu verlieren. Kein Grund,
unruhig zu werden, die Marc e Rosa-Hütte konnte nicht mehr weit sein.
Innerhalb
weniger Minuten sah man jedoch nur noch Schnee und Nebel, eine unendliche weiße
Masse. Bald war keine Spur mehr zu erkennen, und weder Francesco noch Eva wagten
zu fragen, wo sie sich befänden und wie lange sie noch weitergehen müssten bis zur
Schutzhütte. Der Wind peitschte ihnen unablässig schneidende Kälte und Schnee in
die schmerzenden Gesichter.
Wirre Gedanken,
als hätte sie hohes Fieber mit Halluzinationen, gingen Eva durch den Kopf. Sie glaubte
auf einmal, diese Situation schon zu kennen. Ein Déjà-vu-Erlebnis? Das kannte sie
doch, diesen Kampf im Sturm unterwegs, dieses Ringen mit sich – eher im Kopf als
mit dem Körper. Nicht stehenzubleiben, nicht aufzugeben. Oder hatte sie es nur gelesen
oder geträumt?
Einige Meter
weiter vorne, eine undeutliche Gestalt im Nebel, führte Alex die kleine Seilschaft
unbeirrt zwischen unsichtbaren Abgründen und dem Spaltenlabyrinth des Gletschers
weiter. Er bekam auf einmal fast etwas Übermenschliches, schien nicht zu leiden
wie die beiden hinter ihm. Der heftige Wind konnte ihm nichts anhaben, auch die
Kälte und die furchtbare Einsamkeit nicht. Eva begann ihn beinahe zu fürchten. Er
führte, sicher wie
Weitere Kostenlose Bücher