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Toedliche Spiele

Toedliche Spiele

Titel: Toedliche Spiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Collins
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immer angesteckt, doch seit seinem Tod habe ich nicht mehr viel gesungen. Nur wenn Prim sehr krank ist. Dann singe ich ihr die Lieder vor, die sie schon als Baby mochte.
    Singen. Die Tränen schnüren mir die Kehle zu, meine Stimme ist heiser von Rauch und Erschöpfung. Aber wenn es Prims ... nein ... Rues letzter Wunsch ist, dann muss ich es wenigstens versuchen. Das Lied, das mir einfällt, ist ein einfaches Wiegenlied, mit dem wir unruhige, hungrige Babys in den Schlaf singen. Ich glaube, es ist schon alt, sehr alt. Vor langer Zeit in den Hügeln entstanden. Mein Musiklehrer hat es als Berglied bezeichnet. Der Text ist leicht und beruhigend und er verspricht, dass morgen alles besser sein wird als in dieser schrecklichen Zeit, die wir heute nennen.
    Ich räuspere mich, schlucke schwer und singe:
     
    Auf dieser Wiese unter der Weide,
    Ein Bett aus Gras, ein Kissen wie Seide.
    Dort schließe die Augen, den Kopf lege nieder,
    Wenn du erwachst, scheint die Sonne wieder.
     
    Hier ist es sicher, hier ist es warm,
    Hier beschützt dich der Löwenzahn.
    Süße Träume hast du hier und morgen erfüllen sie sich.
    An diesem Ort, da lieb ich dich.
     
    Rues Augen haben sich mit einer leisen Bewegung geschlossen. Ihre Brust bewegt sich kaum merklich. Meine Kehle gibt die Tränen frei, sie rinnen mir über die Wangen. Doch ich muss das Lied für sie zu Ende singen.
     
    Auf dieser Wiese, im tiefen Tal,
    Ein Blättermantel, ein Mondenstrahl.
    Dort vergiss den Kummer, leg beiseite die Sorgen,
    Fortgespült sind sie am Morgen.
     
    Hier ist es sicher, hier ist es warm,
    Hier beschützt dich der Löwenzahn.
     
    Die letzten Zeilen sind fast nicht zu hören.
     
    Süße Träume hast du hier und morgen
    erfüllen sie sich.
    An diesem Ort, da lieb ich dich.
     
    Alles ist ruhig und still. Dann, fast unheimlich, nehmen die Spotttölpel mein Lied auf.
    Einen Augenblick sitze ich da und sehe zu, wie meine Tränen auf ihr Gesicht tropfen. Die Kanone für Rue wird abgefeuert. Ich beuge mich vor und drücke ihr die Lippen auf die Schläfe. Langsam, als wollte ich sie nicht wecken, lege ich ihren Kopf wieder auf den Boden und lasse ihre Hand los.
    Jetzt wird von mir erwartet, dass ich das Feld räume. Damit sie die Leichen einsammeln können. Es gibt ja auch keinen Grund, hierzubleiben. Ich drehe den Jungen aus Distrikt 1 auf den Bauch, nehme seinen Rucksack und den Pfeil an mich, der sein Leben beendet hat. Dann schneide ich die Träger von Rues Bündel durch - ich weiß, dass sie gewollt hätte, dass ich es an mich nehme -, lasse den Speer jedoch in ihrem Bauch. Wenn eine Waffe in einem toten Körper steckt, wird sie mit in das Hovercraft befördert. Mit einem Speer kann ich nichts anfangen, je eher er die Arena verlässt, desto besser.
    Aber ich kann den Blick nicht von Rue wenden, kleiner denn je liegt sie da, ein Tierbaby, zusammengerollt wie in einem Nest. Ich bringe es nicht über mich, sie einfach so zu verlassen. Sie hat alle Qualen überstanden, aber sie sieht so wehrlos aus. Es wäre unangebracht, den Jungen aus Distrikt 1 zu hassen, der im Tod doch auch so verletzlich wirkt. Ich hasse das Kapitol, das uns allen dies antut.
    Gales Worte fallen mir ein. Seine wirren Reden gegen das Kapitol erscheinen mir jetzt nicht mehr ohne Sinn, ich kann sie nicht länger abtun. Rues Tod hat mich gezwungen, mich meinem eigenen Zorn über die Grausamkeit zu stellen, über das Unrecht, das sie uns antun. Aber hier fühle ich mich noch ohnmächtiger als zu Hause. Es gibt keine Möglichkeit, es dem Kapitol heimzuzahlen. Oder?
    Da fällt mir ein, was Peeta damals auf dem Dach gesagt hat:
»Ich wünsche mir nur, mir würde etwas einfallen, wie ... wie ich dem Kapitol zeigen kann, dass sie mich nicht besitzen. Dass ich mehr bin als eine Figur in ihren Spielen.«
Und zum ersten Mal verstehe ich, was er meint.
    Ich möchte hier und jetzt etwas tun, das sie beschämt, das sie zur Verantwortung zieht und ihnen zeigt, dass jeder Tribut etwas hat, das sie nicht bekommen werden, was sie auch tun und wozu sie uns auch zwingen. Dass Rue mehr war als eine Figur in ihren Spielen. Und ich auch.
    Ein paar Schritte entfernt im Wald wachsen wilde Blumen. Vielleicht nur Unkraut, aber ihre Blüten haben wunderschöne Formen in Lila, Gelb und Weiß. Ich pflücke einen ganzen Armvoll und gehe zurück zu Rue. Langsam, Stiel für Stiel, schmücke ich ihren Körper mit den Blüten. Verdecke die hässliche Wunde. Bekränze ihr Gesicht. Webe ihr leuchtende Farben ins

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