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Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Schwäche oder einen Zweifel zeigen, niemals die Fassung verlieren oder Angst, Versagen oder Verzweiflung eingestehen. Was für eine schreckliche Einsamkeit! Und noch dazu eine, in der man nicht allein war.
    Wusste sie über die intimen Dinge des Lebens Bescheid?
    Wenn er, der erfahrene Anwalt, ihre strahlende Unschuld betrachtete, hielt er es für sehr wahrscheinlich, dass sie nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Und selbst wenn es anders war, konnte überhaupt ein Mann ihre Erwartungen erfüllen?
    Ihm brach der Schweiß aus, als er sich für einen Augenblick in Melvilles Lage versetzte. Jetzt verstand er nur allzu gut, warum der junge Mann das nicht ertragen konnte. Und es war arrogant von Rathbone gewesen, sich vorzustellen, er selbst hätte sich nicht in einer ähnlichen Position wieder finden können. Er war mindestens zwölf oder fünfzehn Jahre älter als Melville, und doch hatte ihn Mrs. Ballinger ausmanövriert.
    »Ich denke, Sie werden sehr glücklich sein, Miss Lambert«, sagte er linkisch. »Ich hoffe es jedenfalls. Aber…«
    Sie sah ihn verständnislos an. »Aber was, Sir Oliver? Können Sie an meine m Glück zweifeln? Sie kennen Killian nicht, sonst würden Sie das bestimmt nicht sagen.«
    Was konnte er nur erwidern, um wenigstens halbwegs ehrlich zu sein? Melville hatte ihn gebeten, ihn vor Gericht zu verteidigen, falls dies notwendig sein sollte. Sein Auftrag war nicht, irgendwelche Verhandlungen zu führen, um die Verlobung zu lösen. Vielleicht würde Melville ja noch seine Meinung ändern.
    »Kein Aber, Miss Lambert«, sagte er und schüttelte den Kopf.
    »Vielleicht beneide ich Sie einfach nur. Ich wünsche Ihnen alles Glück der Welt. Guten Abend.« Und bevor er sich weiter in Widersprüche verstricken konnte, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zu Lady Hardesty.
    Am nächsten Tag schickte Rathbone Melville eine Nachricht, dass er nach reiflicher Überlegung seine Meinung geändert habe, und ihn vor Gericht vertreten würde, falls man Melville doch wegen Gelöbnisbruchs verklagte. Und dies, obwohl er befürchtete, dass es ein schwieriger Fall werden würde, und seine Meinung nicht auf einer veränderten Eins chätzung der Erfolgschancen beruhe, die er nach wie vor für äußerst gering halte. Dennoch würde er sein Bestes tun.

2
    Während Rathbone auf Lady Hardestys Ball gelegentlich an sie dachte, saß Hester Latterly still in dem Raum, den man ihr für die Zeit ihres Aufenthalts in dem eleganten Haus an der nordwestlichen Ecke des Tavistock Square zugewiesen hatte. Es war das Haus von Lieutenant Gabriel Sheldon und Perdita, seiner jungen Frau. Lieutenant Sheldon war nach seinem Armeedienst in Indien ehrenhaft entlassen worden. Er war einer der wenigen Überlebenden des grauenvollen Aufstands, der Belagerung von Cawnpore, gewesen. Etwa zwei Jahre nach diesem furchtbaren Ereignis - er war in Indien geblieben -, im Winter 1859/60, zog er sich schreckliche Verletzungen zu. Er verlor einen Arm, wurde schwer entstellt, und zu Anfang rechnete niemand damit, dass er überleben würde.
    Im Januar erachtete man seine teilweise wiederhergestellte Gesundheit als ausreichend, um ihn nach England zurückzubringen und als Invaliden aus der Armee zu entlassen. Er war jedoch weit entfernt von einem Zustand, in dem er ohne erfahrene Pflege hätte auskommen können, und die Schäden, die er im Gesicht erlitten hatten, waren derart, dass für seine Pflege nicht nur medizinische Kenntnisse und Erfa hrung, sondern auch ein besonderes Einfühlungsvermögen vonnöten war. Auch der Stumpf seines Arms war an manchen Stellen noch unverheilt und nicht ganz frei von Infektionen. Nicht einmal die Gefahr des Wundbrands ließ sich ausschließen.
    Perdita war jung und hübsch und voller Lebenslust gewesen, als ihr gut aussehender Mann nach wenigen Monaten Ehe im Spätherbst des Jahrs 1856 zu seinem Regiment zurückkehren und nach Indien aufbrechen musste. Sie hätte ihn gern begleitet, aber sie befand sich im frühen Stadium einer Schwangerschaft, und es ging ihr alles andere als gut. Im Frühling hatte sie dann eine Fehlgeburt. Und 1857 geschah das Unerwartete. Die einheimischen Sepoys hatten einen Aufstand angezettelt, und die Revolte hatte sich wie ein Buschfeuer ausgebreitet. Männer, Frauen und Kinder wurden massakriert. Die Berichte, die nach England drangen, waren zu grauenhaft, um ihnen Glauben zu schenken. Täglich, ja beinahe stündlich, lasen die Leute die jüngsten Meldungen aus den belagerten

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