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Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hässlich, unnütz und hilflos. Er hatte keine Funktion mehr in einem Leben, das sich unendlich vor ihm erstreckte. Er würde für alle Zeit von der Hilfe anderer abhängig sein, ein Schrecken für diejenigen, die nichts von den Gräueln des Krieges wussten, während die anderen ihm Mitleid entgegenbringen würden. Das Schlimmste war vielleicht die Tatsache, dass er seine Gefühle nicht mit seiner Frau teilen konnte. Seine Existenz fesselte sie an einen Mann, den anzusehen oder zu berühren ihr höchst peinlich war. Er hatte ihr angeboten, sie aus der Ehe zu entlassen, wie die Ehre es von ihm verlangte. Und wie die Ehre es verlangte, hatte sie sein Angebot abgelehnt.
    »Interessiert Sie irgendein besonderes Thema?«, fragte Hester, während sie ihm die Hand reichte, um ihm zu helfen. Mühsam warf er die Decke zurück und stieg aus dem Bett, damit sie es frisch beziehen konnte. Seit er seinen Arm verloren hatte, kam er häufig aus dem Gleichgewicht.
    Er zwang sich zu einem Lächeln, und sie wusste, dass er diese Anstrengung ihretwillen unternahm und auch weil seine guten Manieren es ihm geboten.
    »Mir fällt nichts ein«, gab er zu. »Ich habe bereits alles gelesen, was ich lesen wollte.«
    »Dann werde ich mich darum kümmern, etwas ganz anderes für Sie zu finden«, sagte sie beiläufig. Während er auf dem Stuhl am Bett Platz nahm, zog sie die alten Bettbezüge ab und strich die frischen Laken glatt. Sie wollte mit ihm nicht über belanglose Dinge sprechen, sondern etwas sagen, das ehrlich war, ihn aber nicht schmerzte, das nicht in Bereiche eindrang, die er vielleicht noch nicht bereit war zu betreten oder vor fremden Augen bloßzulegen. Immerhin befand sie sich erst seit einigen Tagen hier, und sie war weder eine Familienangehörige noch eine Freundin, noch eine Dienstbotin.
    Sie wusste bereits sehr viel über seine intimen körperlichen Bedürfnisse, weit mehr als irgendjemand sonst, aber was seine Geschichte, seinen Charakter oder seine Empfindung betraf, konnte sie nur raten.
    »Was haben Sie denn gelesen?«, fragte er, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte.
    »Einen Roman über Leute, die zu mögen mir einfach nicht gelungen ist«, erwiderte sie mit einem Lachen. »Ich fürchte, es interessiert mich nicht im Mindesten, ob sie jemals eine Lösung für ihre Probleme gefunden haben oder nicht. Ich denke, das nächste Mal versuche ich es vielleicht mit etwas Sachlichem, vielleicht einer Beschreibung von Orten, die ich wahrscheinlich nie besuchen werde.«
    Er schwieg eine Weile.
    Sie machte ohne Hast das Bett fertig.
    »Wir haben ziemlich viel über Indien«, sagte er schließlich.
    Sie bemerkte eine Modulation in seiner Stimme, die diesen Worten eine zusätzliche Bedeutung gab. Er musste furchtbar einsam sein. Er bekam nur wenige Menschen zu Gesicht, außer Perdita, und bei ihren Besuchen wusste keiner, was er sagen sollte. Sie mühten sich mit Platitüden ab, und auf sekundenlanges Schweigen folgten eilig hervorgestoßene, unzusammenhängende Worte. Er war beinahe erleichtert, wenn sie wieder ging.
    Sein Bruder Athol war ein Mann, der zu übertriebenen Gefühlsausbrüchen neigte, der energische Ansichten in Bezug auf Gesundheit und Moral vertrat und ganz allgemein einen Optimismus verbreitete, der bisweilen das Maß des Erträglichen überschritt. Er weigerte sich, Gabriels Leiden zur Kenntnis zu nehmen oder auch nur den Versuch zu machen, es zu verstehen. Vielleicht machte es ihm Angst, denn seine Philosophie hatte keine Antwort dafür parat. Es war etwas, das sich jeder Kontrolle entzog, und Athols Selbstsicherheit kam aus der Überzeugung, dass der Mensch Herr seines Lebens war oder sein konnte und auf jeden Fall werden musste.
    »Sie wissen doch sicher mehr über Indien als die meisten Schriftsteller«, bemerkte sie und vergaß für einen Augenblick die Wäsche. Sie sah Gabriel aufmerksam an und versuchte, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten.
    »Zum Teil«, pflichtete er ihr bei. Er beobachtete sie mit der gleichen Eindringlichkeit und fragte sich offensichtlich, was er ihr erzählen konnte, ohne dass sie von Dingen, die über ihr Verständnis gingen, allzu sehr erschreckt würde. »Interessieren Sie sich für Indien?«
    Sie brachte diesem Land kein besonderes Interesse entgegen, aber sie interessierte sich für ihn. Sie wandelte die Wahrheit ein wenig ab. »Für das aktuelle politische und vor allem militärische Geschehen dort.«
    Der Zweifel in seinen Augen war unübersehbar.
    »Militärisches

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