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Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Geschehen, Miss Latterly?« Auch in seiner Stimme schwang eine Spur von Ungläubigkeit mit, als misstraue er ihren Motiven und fürchte, dass sie ihm nach dem Mund redete. »Haben Sie einen Bruder bei der Armee?«
    Sie lächelte, weil er automatisch davon ausging, dass es sich nicht um einen Geliebten handeln würde. Er fand gewiss, sie sei zu alt für etwas Derartiges oder nicht hübsch genug. Es war gedankenlos. Er hatte sicher nicht die Absicht, sie zu kränken.
    »Nein, Lieutenant, mein älterer Bruder ist Geschäftsmann , und mein jüngerer Bruder wurde auf der Krim getötet. Ich habe eigene Gründe, mich für Militärgeschichte zu interessieren.«
    Er wusste, dass er ungeschickt gewesen war, obwohl er nicht recht hätte sagen können, inwiefern. Sie konnte es in seiner Miene lesen, in seinen Augen.
    Plötzlich wurde ihr klar, wie wenig sie ihm von sich selbst erzählt hatte, und vielleicht war auch Athol in dieser Hinsicht nicht sehr mitteilsam gewesen. Möglicherweise sah er in ihr nur eine bessere Dienerin, und so lange ihre Referenzen hinreichend waren, war alles weitere überflüssig. Man schloss nicht Freundschaft mit Dienstboten, erst recht nicht mit solchen, deren Anstellung nur vorübergehend war.
    Sie lächelte ihn an. »Ich habe sehr entschiedene eigene Meinungen im Hinblick auf die medizinische Versorgung der Armee, Ansichten, von denen die meisten mich seit meiner Rückkehr nach England in Schwierigkeiten gebracht haben.«
    »Rückkehr?«, fragte er hastig. »Von wo?«
    »Von der Krim. Hat Mr. Sheldon Ihnen das nicht gesagt?«
    »Nein.« Sein Interesse war sofort geweckt. »Sie waren auf der Krim? Das ist ja wunderbar! Nein… Er sagte nur, Sie seien die beste Pflegerin, um extreme Verletzungen zu versorgen. Er hat nicht gesagt, warum.« Er beugte sich lebhaft auf seinem Stuhl vor. »Dann müssen Sie einige furchtbare Dinge mit angesehen haben, Hunger und die Ruhr, Cholera, Pocken…. Wundbrand….«
    »Ja«, pflichtete sie ihm bei, während sie das Bett glatt strich.
    »Und Zorn und Verzweiflung und Inkompetenz, die jedes vorstellbare Maß überschritt. Und Ratten… Tausende von Ratten.« Die Erinnerung an diese Tiere war etwas, das sie nie vergessen würde: das Geräusch ihrer dicken Leiber, wenn sie sich von den Wänden fallen ließen, um zwischen den Verwundeten hindurchzulaufen. Die Männer lagen auf dem Fußboden, inmitten des Unrats, den zu entfernen niemand die Zeit oder die Gerätschaft hatte… Es war dieses schwere Platschen, das Huschen winziger Füße, das ihr selbst heute noch, vier Jahre später, die Haare zu Berge stehen ließ.
    Er schwieg, während sie ihm wieder ins Bett half und die Decken über ihm ausbreitete.
    »Nein…«, sagte er schnell, als sie Anstalten machte, die Kissen wegzunehmen. »Bitte, lassen Sie sie liegen. Ich möchte noch nicht schlafen.«
    Sie trat einen Schritt zurück.
    »Miss Latterly!«
    »Ja?«
    »Erzählen Sie mir ein wenig von der Krim. Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    Sie setzte sich auf den Stuhl und drehte sich mit dem Gesicht zu ihm.
    »Ich nehme an, vieles davon ist Ihnen wohl vertraut«, begann sie und ließ ihre Gedanken zurückwandern in jene Zeit vor sechs Jahren, als der Krieg gerade erst begonnen hatte. »Zahllose Männer, einige gerade angekommen und voller Kampfgeist, ohne die geringste Vorstellung, was sie erwartete. Es war ein unglaubliches Gedränge, und die Soldaten waren so voller Mut und bereit loszustürmen, wann immer der Befehl dazu gegeben wurde. Das Herz tut einem weh für sie, weil man weiß, wie anders das alles in nur wenigen Wochen sein wird. Niemand sonst würde glauben, dass eine so kurze Zeit einen Menschen so sehr verändern kann….«
    »Ich würde es glauben!«, sagte er sofort. Er wollte sich zu ihr umdrehen und verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht, als er instinktiv versuchte, die Hand auszustrecken, die nicht da war.
    Sie ignorierte den Zwischenfall und gab ihm Zeit sich wieder aufzurichten.
    »Wussten Sie, dass die ganze Belagerung von Cawnpore nur vom fünften Juni bis zum siebzehnten Juli gedauert hat?«, fragte er. Er musterte sie eindringlich, um zu sehen, was diese Tatsache für sie bedeutete. Hatte sie einige der Berichte über dieses unbeschreibliche Ereignis gelesen? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was das bedeutete? Die meisten Menschen verstanden nichts von alledem. Er hatte versucht, mit seinem Bruder darüber zu sprechen, aber Athol hatte nie im Leben eine Erfahrung gemacht, mit

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