Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
der er die Belagerung hätte vergleichen können. Gabriel hätte ebenso gut von den Geschöpfen und den Vorkommnissen in einer anderen Welt reden können. Solche Gefühle ließen sich nicht beschreiben, man musste sie erleben. Der Gedanke, Perdita davon zu erzählen, war ihm nie gekommen. Das wenige, was sie vielleicht verstehen würde, würde sie nur verwirren und bekümmern. Seine Leidenschaft und seine Trauer würden ihr Angst machen, sie vielleicht abstoßen. Er musste das Wissen um diese Dinge allein tragen, und es ging beinahe über seine Kräfte.
    »Ich hätte den Aufstand zeitlich nicht zuordnen können«, gab sie zu. »Aber ich weiß, dass Ereignisse, die die Blüte einer Generation vernichten und unheilbare Wunden hinterlassen, sich innerhalb von einem oder zwei Tagen abspielen können.«
    Er war verunsichert. In seinen Augen flackerte die Hoffnung auf, dass er mit seinen Erinnerungen und seinem Wissen vielleicht doch nicht allein dastand.
    »Ich habe den Sturmangriff der Leichten Infanterie bei Balaklava miterlebt«, sagte sie sehr leise. Sie hatte ihre Stimme noch immer nicht recht unter Kontrolle, wenn sie darüber sprach. Schon allein die Worte schnürten ihr die Kehle zu und ließen Träne n in ihre Augen treten. Der süßliche, klebrige Geruch von Blut brachte ihr stets aufs Neue die Erinnerungen zurück, den überwältigenden Schmerz im Angesicht so vieler verstümmelter und sterbender Männer, von denen viele kaum die Zwanzig erreicht hatten. Hinter ihren geschlossenen Augenlidern konnte sie die Männer in den bizarrsten Körperhaltungen sehen, während sie versuchten, mit den Händen ihre eigenen Blutungen zu stillen.
    Gabriel schüttelte schweigend den Kopf, und in diesem Augenblick wusste sie, dass er genauso furchtbare Dinge erlebt hatte. Sie brannten hinter seinen Augen und suchten ihn in seinen Träumen heim. Er musste mit irgendjemandem darüber sprechen, nicht offen vielleicht, aber doch in Andeutungen, genug, um seine schreckliche Einsamkeit zu d urchbrechen. Denn es bedeutete Einsamkeit, unter Menschen zu leben, die nichts von alldem wussten, die von diesen Dingen wie von einem Roman sprachen.
    Sie stellte ihm die unvermeidliche Frage. Der Aufstand hatte ganz Indien von Kalkutta über Delhi bis hin zu den Bergpässen nach Afghanistan verwüstet, wo die Luft in der großen Höhe immer dünner wurde und Gipfel in den Himmel ragten, auf denen der Schnee seit Jahrtausenden nicht mehr geschmolzen war.
    »Waren Sie in Cawnpoe?« Er nickte.
    »Bei der Entsatztruppe?«
    »Nein… Ich..« Er sah sie mit ruhigem Blick an. »Wir waren über neunhundert, wenn man die Frauen und Kinder und die Zivilisten mitzählt. Ich war einer von vier Überlebenden.« Während er sie mit starrem Blick ansah, füllten seine Augen sich mit Tränen.
    Was konnte man darauf erwidern?
    »So eine Grausamkeit habe ich nie mit ansehen müssen.« Sie sprach sehr leise, eine simple, schlichte Wahrheit. »Die Toten, die ich gesehen habe, waren auf dem Schlachtfeld gefallen. Männer, die nach Zahl oder Bewaffnung unterlegen waren, ausgesandt, um uneinnehmbare Stellungen zu erstürmen, aber eben doch Soldaten, auch wenn ihr Leben sinnlos verschwendet worden war. Oder Menschen, die an Hunger, Kälte und Krankheiten zu Grunde gingen. Wussten Sie, dass viel mehr Soldaten von Krankheiten dahingerafft werden als von Gewehrschüssen?« Sie schüttelte ein wenig den Kopf. »Aber ja, natürlich wussten Sie das. Aber einen solchen Hass, wie Sie ihn beschreiben, habe ich nie gesehen, eine solche Barbarei, der jedes lebende Wesen zum Opfer fiel. Die Belagerei, der jedes lebende Wesen zum Opfer fiel. Die Belagerung von Sebastopol war zumindest… militärisch.«
    Er klammerte sich an ihr Verständnis und ließ sie keine Sekunde aus den Augen.
    »Es begann am fünften Juni«, sagte er. »Der Aufstand hatte sich seit Ende Februar schon über das ganze Land ausgebreitet. Es hatte in Meerut und Lucknow Unruhen wegen der Patronen gegeben. Wissen Sie, wie das mit den Patronen war?« Er beobachtete sie genau. »Sie wurden mit tierischem Fett geschmiert. Wenn man Schwein nahm, war es für die muslimischen Soldaten unrein, nahm man Rinderfett, sahen die Hindus es als Blasphemie an, da für sie die Kuh ein heiliges Tier ist. Am siebten Mai brach in Lucknow ein offener Aufstand aus, am sechzehnten Mai rebellierten in Meerut die Pioniere. Bis zum zwanzigsten hatte sich die Rebellion nach Murdan und Allygurh hin ausgeweitet. Am Tag danach begannen wir in

Weitere Kostenlose Bücher