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Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Cawnpore mit unserer Verschanzung.«
    Sie nickte.
    »Am vierundzwanzigsten rebellierte in Hattrass die berittene Truppe von Gwalior«, fuhr er fort. »Bis zum achtundzwanzigsten hatte der Aufstand sich nach Nuseerabad ausgedehnt. Am einunddreißigsten folgte Shahjehanpoor, am dritten Juni Alzimghur, Seetapoor, Mooradabad und Neemuch. Am Tag danach Benares und Jhansi. Am fünften waren wir es.« Er holte tief Atem, aber seine Stimme veränderte sich nicht.
    »Später erfuhr ich dann, dass am sechsten Allahabad, Hansi und Bhurtpore hinzukamen. In der folgenden Woche dann Jullunur, Fyzabad, Badulla Serai, Sultanpore, Futtehpore, Pershadeepore… und so weiter und so weiter. Ich könnte Ihnen jede Garnison in Indien nennen. Es war niemand da, der uns hätte helfen können.«
    Sie konnte es sich vorstellen. Die Isolation und die verzehrende Angst mussten wie eine Flutwelle gewesen sein, die alles unter sich begrub.
    Er musste wissen, dass sie es ertragen konnte, davon zu hören.
    »Wie hat es angefangen?«, fragte sie. »Mit Kanonen?«
    »Nein. Nein, die gesamten einheimischen Truppen steckten ihre Unterkünfte in Brand und marschierten auf die Schatzkammer zu, wo sich ihnen die Truppen von Nena Sahib anschlossen… Ein Name, den ich übrigens noch immer kaum über die Lippen bringe.« Sein Gesicht war starr vor Kummer.
    Sie saß still da und wartete.
    »Er hatte tausende einheimischer Soldaten«, fuhr er fort. »Wir waren nur ein paar hundert Mann, mit dreihundert Frauen und genauso vielen Kindern. Dazu kamen dann natürlich noch die Zivilisten, ganz gewöhnliche Leute: Händler und Krämer, Dienstboten und Pensionäre. General Sir Hugh Wheeler führte das Kommando. Er befahl uns, uns in die Kasernen und das Militärhospital zurückzuziehen. Wir konnten unmöglich die ganze Stadt halten.« Er runzelte die Stirn, als seien ihm die Vorgänge von damals noch immer ein Rätsel. »Warum er sich stattdessen nicht für die Schatzkammer entschieden hat, weiß ich nicht. Die Schatzkammer lag an einem erhöhten Platz und hatte weitaus solidere Mauern. Darin hätten wir uns vielleicht verteidigen können. Ich denke… Ich denke, er konnte einfach nicht glauben, dass wir es allein mit ihnen würden aufnehmen müssen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Sepoys sich, wenn es ernst würde, nicht loyal verhalten würden.« Er brach erneut ab. Seine Hand krampfte sich um die Decke, entspannte sich, krampfte sich wieder zusammen. »Natürlich hat er sich geirrt.«
    »Ich weiß«, sagte sie leise. »Hatten Sie Lebensmittelvorräte und Munition?«
    Er sah sie eindringlich an.
    »Die Nahrungsvorräte waren bescheiden, Munition hatten wir genug. Aber es fehlte uns an Deckung. Es dauerte nur wenige Tage, bis die Mauern von Schüssen so durchlöchert waren, dass wir Gräben ausheben mussten und Wagen, Truhen und Möbelstücke über uns ziehen, um uns so gut wie möglich zu schützen. Die Hitze war für viele Menschen unerträglich.«
    Sie versuchte, sich Indien im Juli vorzustellen. Es überstieg alles, was sie bisher kennen gelernt hatte.
    »Ich weiß nicht, wie viele daran gestorben sind«, sagte er , während er sie noch immer beobachtete. Er musste von dem Verlust seiner Freunde sprechen, der Menschen, die er Unvorstellbares hatte erleiden sehen - und war sich doch gleichzeitig darüber im Klaren, wie dieses Wissen sich auf sie auswirken konnte. Und er musste sicherstellen, dass es keine leeren Beschreibungen waren, denen sie nicht würde folgen können. Er brauchte ihre Kameradschaft und ihren Beistand in seiner Trauer.
    »Ich nehme an, es war schlimmer als die Kälte«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe Menschen erfrieren sehen und auch Tiere.«
    »Der Geruch«, antwortete er. »Es war der Geruch… und die Fliegen, die ich am meisten gehasst habe. Ich kann das Geräusch von Fliegen noch immer nicht ertragen. Mir wird übel davon, und ich bekomme keine Luft mehr. Ich habe das Gefühl, als müsse ich ersticken, als würde mir das Herz im Leib zerspringen.«
    »Sie sind nicht entsetzt worden?« Sie erinnerte sich, dass sie in der Illustrated London News etwas darüber gelesen hatte. Der Bericht war schrecklich gewesen, und das trotz der Zensur für die allgemeine Öffentlichkeit.
    »Nein.« Das Wort wog so schwer wie ein Stein. »Wir haben jeden Tag damit gerechnet, dass Hilfe kommen würde. Wir wussten ja nicht, dass das ganze Land in Aufruhr stand. Einer nach dem anderen fielen wir und nahmen so viele Feinde mit, wie wir nur

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