Tödliche Täuschung
er wirklich meinte. Sie war sich darüber im Klaren, wie sehr er darunter litt, dass er nicht mehr der Ehemann, Gefährte und Beschützer sein konnte, der er ihr versprochen hatte zu sein. Stattdessen hätte er ihre Kraft und ihre Hilfe gebraucht, nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer Hinsicht.
»Ja«, sagte sie mit einem ermutigenden Lächeln. »Sobald ich weiß, dass Sie alles haben, werde ich zu ihr gehen.«
Er entspannte sich. Zumindest um den heutigen Abend brauchte er sich keine Sorgen zu machen. »Ich danke Ihnen. Gute Nacht, Hester.« Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er ihren Vornamen benutzt.
»Gute Nacht, Gabriel«, antwortete sie von der Tür aus und zog sie dann leise hinter sich zu.
Es war nach elf Uhr, aber da sie ein Versprechen gegeben hatte, ging sie die Treppe hinunter, um nachzusehen, ob Perdita noch auf war.
Als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, richtete Perdita sich auf dem Sofa, auf dem sie halb schlafend gelegen hatte, abrupt auf. Ihr Haar war zerzaust, und sie blinzelte in dem trüben Licht der einen Wandlampe, die noch brannte. »Wie geht es ihm?«, erkundigte sie sich ängstlich. »Geht es ihm gut?«
Hester schloss die Tür und ging auf den Stuhl neben dem Sofa zu und setzte sich. Sie betrachtete Perditas erschrockene Augen und ihre weiche Wange, auf der die Falten des Kissens ihre Abdrücke hinterlassen hatten. Sie war etwa zweiundzwanzig Jahre alt, in vielerlei Hinsicht aber noch ein Kind. Sie hatte mit achtzehn nach einem einjährigen Verlöbnis einen Mann geheiratet, der in jeder Weise ihrem Ideal entsprach. Gabriel Sheldon war der perfekte Ehemann gewesen: gut aussehend, charmant, wohlerzogen, mutig und mit einer viel versprechenden Laufbahn vor sich. Und obwohl es eine gesellschaftlich anerkannte Verbindung gewesen war, waren sie auch ineinander verliebt gewesen.
Jetzt lag ihre ganze Welt in Trümmern, ohne dass sie den Grund dafür hätte verstehen können, und diese Tragödie machte sie vollkommen hilflos.
»Er hat sich für die Nacht zur Ruhe begeben«, antwortete Hester. »Ich denke, er wird jetzt gut schlafen.« Sie wusste nicht, ob es wirklich so war oder nicht, aber es hätte keinen Sinn gehabt, das Perdita zu sagen.
Perdita runzelte die Stirn. »Sind Sie sich sicher? Sie waren so lange bei ihm…«
»Oh… ja, wahrscheinlich war ich das. Wir haben einfach nur geredet. Es gab keine Probleme, das kann ich Ihnen versprechen.«
Perdita machte ein unglückliches Gesicht und verkrampfte die Hände auf dem Schoß.
»Ich weiß nie, was ich ihm sagen soll…«, murmelte sie. »Ich kann doch nicht dauernd fragen, wie er sich fühlt. Er sagt sowieso immer nur, es ginge ihm gut. Und ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich kann nichts tun.« Sie blickte plötzlich auf. Sie hatte sehr blaue Augen, aber bei dieser schwachen Beleuchtung wirkten sie beinahe schwarz. »Was reden Sie denn mit ihm, Miss Latterly?«
Hester zögerte. Wahrscheinlich war es besser, nicht die Wahrheit zu sagen. Er hatte zwar nicht ausdrücklich darum gebeten, aber sie spürte, dass Gabriel mit ihrer Verschwiegenheit rechnete. Sie beide hatten Dinge erlebt, die sie mit niemandem sonst teilen konnten. So nahe sie auch William Monk bisweilen gewesen war, so viele Dinge sie gemeinsam durchgestanden und so viele Tragödien sie mit angesehen hatten, ihre Erfahrung auf dem Schlachtfeld, während der Belagerung oder im Krankenhaus von Scutari würde sie niemals mit ihm teilen. Aber Gabriel verstand.
Sie musste eine Antwort finden, die Perdita nicht noch hilfloser machte und ihr Gefühl des Ausgeschlossenseins verstärkte.
»Für mich ist es leichter«, begann sie und ließ Perdita dabei nicht aus den Augen. »Zwischen uns gibt es keine gefühlsmäßige Bindung. Deshalb brauchen wir auch weniger Angst zu haben, den anderen zu verletzen. Wir haben über Orte gesprochen, an denen wir gewesen sind, darüber, wie es dort war, wodurch sie sich unterscheiden und wo es Gemeinsamkeiten gibt.«
»Oh…«
Glaubte sie ihr? Aus ihrem gesenkten Blick und dem Zögern in ihrer Stimme ließen sich keine Rückschlüsse ziehen.
»Ich habe ihm von einigen meiner Erlebnisse auf der Krim erzählt«, fuhr Hester fort, weil es ihr unmöglich war, es dabei zu belassen.
»Auf der Krim?« Perdita verstand nicht gleich, wovon sie sprach. Dann trat jähes Begreifen in ihre Züge. »Sie waren auf der Krim?«
Hester erkannte sofort, dass das ein Fehler gewesen war.
Perdita hatte genug gehört und gelesen,
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