Tödliche Täuschung
in Stücke. Einige schafften es, sich bis ans gegenüberliegende Ufer zu retten.«
Hester schloss die Augen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie wollte es nicht, tat es aber, ohne darüber nachzudenken.
»Dann befahl Nena Sahib, alle noch verbliebenen Männer zu erschießen«, fuhr Gabriel fort. »Die Frauen und Kinder, die es bis ans Ufer geschafft hatten, ließ er in seine Residenz bringen. Auch sie wurden in Stücke gehackt und ihre Leichen in den Brunnen geworfen.«
Sie sah ihm wieder ins Gesicht. Sie durfte vor diesen Dingen nicht weglaufen. Es war alles Vergangenheit. Nichts davon konnte noch jemandem wehtun. Aber Gabriel durfte mit diesen grauenhaften Erlebnissen nicht allein gelassen werden. Er war der einzige Überlebende dieser Katastrophe, dem sie helfen konnte.
Er sprach weiter.
»Als General Havelocks Männer das Haus schließ lich fanden, war der Boden zwei Zoll tief mit menschlichem Blut bedeckt.
Sie fanden auch die zerhackten Glieder und Leichen im Brunnen. Eine der Töchter General Wheelers hatte zu den massakrierten Frauen gehört. Sie schickten eine Locke von ihrem Haar als Erinnerungsstück an ihre Familie nach Hause, nach England.« In dem stillen Raum, der nach sauberer Wäsche und Kerzenwachs roch, klang seine Stimme sehr tief und leise.
»Den Rest des Skalps teilten sie unter sich auf, und dann zählte jeder Mann die einzelnen Haare auf seinem Stück und schwor beim Himmel und bei dem Gott, der ihn geschaffen hatte, für jedes Haar einen Rebellen zu töten. Ich weiß es, weil einer dieser Männer ein Freund von mir war. Er weinte sogar noch, als er mir davon erzählte. Wenn er sich an dieses Haus und das, was sie darin fanden, erinnerte, schrie er im Schlaf auf.«
»Wie sind Sie entkommen?«, fragte sie ihn.
»Ich bekam einen Schlag auf den Kopf und wäre beinahe ertrunken«, erwiderte er. »Aber der Fluss hat mich ein Stück weiter stromabwärts an Land gespült. Ich habe so lange besinnungslos dagelegen, dass sie mich wahrscheinlich für tot hielten. Als ich wieder zu mir kam, hatten sie ihre Beute und die überlebenden Gefangenen mitgenommen und waren fort. Dann kamen die schlimmsten zwei Wochen meines Lebens… Ich weiß nicht, wie ich es überlebt habe, aber ich habe mich bis nach Futteypore durchgeschlagen und dort General Havelocks Männer getroffen. Ich war fast tot und im Kampf zu nichts mehr nutze, aber sie haben mich gepflegt. Ich habe mich erholt.« Er lächelte, als überraschte ihn diese Tatsache bis heute. »Ich war nicht einmal schwer verletzt; ich hatte lediglich einige Brandwunden, war halb verhungert und dem Zusammenbruch nahe.« Er warf einen Blick auf seinen leeren Ärmel. »Den da habe ich erst vor ein paar Monaten verloren. Bei einer dummen Straßenschlägerei, die ich unterbinden wollte. Aber das brauchen Sie sich nicht anzuhören.«
Was er meinte, war, dass er es nicht noch einmal durchleben wollte.
»Nein, natürlich nicht«, pflichtete sie ihm bei. Dann erhob sie sich langsam und musste feststellen, dass ihre Beine zitterten und sie Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Sie streckte eine Hand aus, um sich abzustützen.
»Danke, dass Sie mir zugehört haben«, sagte er ernst. »Ich… ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr belastet… Aber ich habe sonst niemanden. Die anderen wollen es nicht wissen. Sie glauben, es wäre viel besser für mich, wenn ich alles vergessen würde… Aber wie könnte ich das? Es würde mir als ein schlimmer Verrat erscheinen… Selbst wenn es möglich wäre! Was für ein Mann wäre ich, wenn ich einfach weitermachen könnte, geradeso, als hätten diese Menschen nie gelebt… Und als wären sie niemals auf diese Weise gestorben?«
»Man vergisst nie«, pflichtete sie ihm bei und dachte an einige ihrer eigenen Erinnerungen, an Männer und Frauen, die schwach und tapfer waren und einen schrecklichen Tod erleiden mussten. »Aber Sie können nicht erwarten, dass andere Leute eine Erfahrung mit Ihnen teilen, die sie nicht begreifen.« Sie zog überflüssigerweise die Bettdecken glatt. »Es ist ein Teil Ihres Lebens und wird es immer sein… Aber es ist nicht alles.«
Er sah sie kläglich an, gab aber keine Antwort.
Sie warf einen Blick auf seinen Nachttisch, um sicherzugehen, dass er Wasser und ein sauberes Glas hatte.
»Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun könnte?«
»Nein«, antwortete er tonlos. »Nein, vielen Dank. Werden Sie - werden Sie noch ein wenig mit Perdita zusammensitzen?«
Sie wusste, was
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