Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
konnten. Noch nie habe ich größeren Mut gesehen. Jeder gesunde Mensch tat, was er konnte, Männer und Frauen gleic hermaßen. Jeder Mann übernahm seinen Teil an der Wache. Die Frauen pflegten die Kranken, kümmerten sich um das Essen und Trinken, versuchten, die Kinder zu schützen.«
    Er rieb mit der Hand fest über das Laken. Mit dieser hektischen Bewegung verschaffte er sich ein Ventil für seine Anspannung, auch wenn seine Muskeln vollkommen verkrampft waren. Sie hatte diese Reaktion schon früher bei Männern gesehen, die sich an alptraumhafte Ereignisse erinnerten. Im Raum herrschte vollkommene Stille.
    »Wir waren gute Schü tzen«, nahm er den Faden seiner Geschichte schließlich wieder auf. »Wir haben sie in Schach gehalten. Sie haben uns nicht angegriffen und uns auch nicht überrannt. Aber es waren so viele und sie konnten uns mit ihren Gewehren leicht erreichen. Sie schossen auf alles, was sich bewegte. Jeden Tag glaubten wir, dass nun Hilfe käme. Es war so heiß. Kein Entrinnen vor der Hitze. Man konnte den Geruch der Hitze riechen, konnte sie überall spüren. Der Schweiß trocknete, kaum dass er einem ausgebrochen war. Jede Berührung der Haut schmerzte. Sie war rissig und voller Blasen.« Er zuckte kaum merklich die Achseln. »Ich weiß nicht, warum ich das erwähne. Es hat kaum eine Rolle gespielt. Wir sind an Hitzschlag und an der Ruhr gestorben… Zumindest jene, die nicht an ihren Verletzungen zu Grunde gingen. Was spielte es da noch für eine Rolle, wenn Leisten oder Achselhöhlen wie Feuer brannten?«
    »Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, das, was man zusätzlich nicht mehr ertragen kann«, antwortete sie. »Für mich waren es die Ratten… Überall Ratten, die von den Wänden fielen.«
    Er lächelte - ein unverhofftes, breites Grinsen, das seinem Gesicht trotz der Entstellung Schönheit verlieh. Nicht aus Amüsiertheit, sondern nur aus der wunderbaren Erleichterung heraus, nicht allein zu sein.
    »Aber Sie haben überlebt«, sagte sie. Sie vermutete, dass dieser Umstand ein Teil der Folter war, die ihn von innen zerfraß. Sie hatte diese Reaktion schon früher bei Männern beobachtet, die miterleben mussten, wie um sie herum die Gefä hrten fielen - aus keinem anderen Grund als dem, dass der Zufall sie gerade an diesen Platz gestellt hatte. Einen Meter weiter in diese oder jene Richtung, und es hätte einen anderen getroffen. In der einen Minute waren sie lebendig, voller Geist und Gefühl, in der nächsten waren sie nur noch eine verstümmelte Masse aus Blut und Knochen, aufgerissenem Fleisch und Schmerz… Man wurde einfach dieses Schuldgefühl nicht los, zu denen zu gehören, die überlebt haben. Ein Teil der eigenen Seele wünschte sich, bei den anderen zu sein.
    Sein Lächeln erlosch, aber er wich auch jetzt ihrem Blick nicht aus.
    »Am vierundzwanzigsten Juni kam Mrs. Greenway mit einem Schreiben von Nena Sahib zu unserer Verschanzung. Ich kann noch immer ihr Gesicht sehen. Sie war alt, sehr alt. Sie erschien mir wie eine Verkörperung von Zeit… oder von Tod. Die Rebellen hatten sie gefangen genommen und mit den Kapitulationsbedingungen zu uns geschickt.« Seine Stimme klang rau. »Nena Sahib versprach, nicht nur die Überlebenden der Garnison unbelästigt abziehen zu lassen, sondern ihnen sogar Transportmittel für die Frauen und Kinder zur Verfügung zu stellen, wenn wir nur das ganze Geld, die Vorräte und die Waffen den Aufständischen überließen.«
    Sie sah ihm fest in die Augen. Das Entsetzen steckte noch immer so sehr in seinen Knochen, dass es ihn ganz auszufüllen schien. Es war wie ein Sturm kurz vor dem Ausbruch.
    »Die Bedingungen wurden angenommen.« Seine Stimme senkte sich zu einem angestrengten Flüstern. »Am siebenundzwanzigsten Juni haben wir uns den Bedingungen entsprechend unterworfen und die Garnison einer nach dem anderen verlassen. Die Frauen und Kinder wurden zu Booten auf dem Fluss geführt… Es waren kleine Strohunterstände darauf… zum Schutz vor der Sonne. Der zuständige Mann hieß Tanteea Topee. Er saß auf einem Podest und behielt alles im Auge. Auf seinen Befehl ertönte ein Signalhorn, dann kamen sie mit Waffen herbeigestürmt, die sie bis dahin verborgen gehalten hatten. Sie haben auf die Boote geschossen. Das Stroh fing Feuer. Frauen und Kinder verbrannten bei lebendigem Leib. Einige sprangen in den Fluss, aber die Sepoys ritten mit ihren Pferden ins Wasser, gingen mit Knüppeln und Säbeln auf sie los und schlugen sie

Weitere Kostenlose Bücher