Tödliche Täuschung
gekommen.«
»Oh!« Hester nahm den Umschlag erfreut entgegen. Er trug Lady Callandra Daviots Handschrift und war in Fort William, im Norden von Schottland, abgestempelt worden. »Ach, wie schön!«
»Eine Freundin?«, fragte Martha lächelnd. »Ich hole den Tee.
Wie war’s mit ein paar Keksen?«
»Ja, bitte«, sagte Hester, und sobald Martha den Raum verlassen hatte, riss sie den Brief auf und las:
Meine liebe Hester , was für ein wunderbares Land! Ich hätte nie gedacht, dass ich solchen Spaß haben würde. Ich verspüre den heftigen Drang, wieder mit dem Malen anzufangen. Man müsste alles auf feuchtem Papier malen, finde ich, um die Weichheit der Farben und Art und Weise einzufangen, wie das Licht auf das Wasser fällt. Gestern bin ich von der Isle of Skye zurückgekommen. Das Cuillin-Gebirge ist so schön, dass es mir wehtat, denn sobald ich den Blick abwende, weiß ich, dass ich es wieder sehen muss. Und ich kann doch nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, auf ein und derselben Stelle zu stehen und auf das Wechselspiel des Sonnenlichts, den Nebel und die Schatten über dem Meer zu starren. Heute ruhe ic h mich aus und tue nur ganz wenig, abgesehen von den Briefen, die ich an einige Freunde schreiben möchte und von denen Sie und William die Einzigen sind, die vielleicht auch nur annähernd verstehen, was ich empfinde. Daher sind Sie beide auch die Einzigen, an die zu schreiben mir echte Freude bereitet. Bei den anderen ist es wohl mehr die Befriedigung, eine Pflicht erfüllt zu haben. Wie sehr wir doch Sklaven unseres Gewissens sind!
Wie geht es Ihnen? Sind Sie gerade mit irgendwelchen Fällen beschäftigt, die Ihnen am Herzen liegen? Oder pflegen Sie gelangweilte alte Damen, die an Schwermut leiden und mit ihrer Zeit und ihrem Geld nichts anzufangen wissen, als jemanden herumzukommandieren? Oder haben Sie es mit reizbaren, weil gichtgeplagten Colonels zu tun, d ie nur zu heilen wären, wenn sie vom Portwein und dem Stiltonkäse die Finger ließen - was sie natürlich niemals tun werden? Haben Sie in letzter Zeit William einmal gesehen? Seinen wirklich interessanten Fall habe ich leider verpasst. Natürlich hat er mir hinterher alles darüber erzählt, aber das ist kaum dasselbe. Er kommt in letzter Zeit so gut zurecht, dass er meine gelegentliche finanzielle Unterstützung nicht mehr braucht - was mich natürlich ungemein freut. Ich wünsche ihm so sehr, dass er Erfolg hat. Meine Hilfe war nur als eine vorübergehende Einrichtung gedacht, sonst hätte er sie, wie ich sehr wohl weiß, nicht angenommen. Männer sind schon sehr komisch, wenn es um Geld geht - es sei denn, sie heiraten welches. In diesem Fall sind sie der Meinung, es gehöre von Rechts wegen ihnen, wie es das Gesetz ja auch tatsächlich vorsieht. Mir fehlt jedoch die Aufregung, die das Zusammensein mit Ihnen beiden mit sich zu bringen pflegte, dieses unbändige Verlangen, die Wahrheit über irgendeine Gewalttat ans Licht zu bringen, auch wenn sich das Ganze am Ende als Tragödie herausstellte. Ich bin es nicht gewöhnt, auf der Oberfläche des Lebens dahinzutreiben, und ich stelle fest, dass die Geruhsamkeit dieser Existenz mich manchmal eine schreckliche Einsamkeit empfinden lässt, als ginge das Leben an mir vorbei. Sitze ich hinter einem Fenster und betrachte die Welt, von ihr getrennt, durch undurchdringliches Glas?
Hester las weitere Beschreibungen über die majestätische Schönheit des Hochlands, wie Callandra sie auf Easter und Wester Ross kennen gelernt hatte, aber sie achtete mehr auf die Gefühle, die sich hinter diesen Worten versteckten, und dachte an Callandras warmherzige Freundschaft und Aufrichtigkeit. In gewisser Weise hatte Callandra ihr die Familie ersetzt, der sie nicht länger nahe stand, und sie freute sich auf ihre Rückkehr.
Martha kam mit Tee und einem ziemlich großen Teller frisch gebackener Kekse auf einem Tablett zurück. Sie stellte es ab und schenkte ihnen beiden eine Tasse ein.
Hester legte den Brief beiseite.
Martha hielt ihre Tasse hoch und wartete, bis der Tee genügend abgekühlt war, um daran zu nippen. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie machte sich offensichtlich über etwas Sorgen.
Hester konnte sich schon denken, worüber. »Haben Mr. und Mrs. Sheldon darüber gesprochen, dass Mr. Sheldon etwas über indische Geschichte lesen sollte?«, erkundigte sie sich.
Martha sah sie über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Nein, er ist der Ansicht, je weniger man über das Thema spricht, umso
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