Tödliche Täuschung
schneller kommt alles wieder in Ordnung - was absoluter Unfug ist!« In ihrer Stimme vibrierte ein Zorn, für den sie keine Worte fand. »Sie ist so einsam, weil sie nicht die geringste Ahnung davon hat, was ihm widerfahren ist. Es sind nicht nur der körperliche Schmerz oder die Erinnerungen.« Sie starrte ins Leere, als hätte sie etwas vor Augen, das weit von diesem stillen Raum entfernt war, von diesem Haus, das sich zur Ruhe begab und in dem kein Laut zu hören war außer dem Zischen des Gases und hier und da dem Knarren eines Dielenbretts.
Hester unterbrach sie nicht.
»Es ist nicht gesund«, fuhr Martha fort. »Es ist so, als sei man nur an Schönheit gewöhnt und müsste dann plötzlich Hässlichkeit akzeptieren, Missbildungen…« Es fiel ihr offensichtlich schwer, das Wort auch nur auszuspreche n.
»Entstellungen«, widersprach Hester ihr. »Das ist nicht wirklich dasselbe.«
Martha sah sie flüchtig an. »Nein - nein, natürlich nicht. Es tut mir Leid. Ich war in Gedanken bei etwas anderem. Ich…« Sie sah Hester mit einem seltsamen, beinahe scheuen Ausdruck an, und doch stand in ihren Augen eine deutliche Bitte.
»Sie haben so etwas schon einmal erlebt?«, fragte Hester sehr leise und nahm dann einen Schluck von ihrem Tee, um nicht aufdringlich zu erscheinen.
Martha wandte sich wieder ab und schob den Teller mit den Keksen näher zu Hester. »Mein Bruder Samuel hat eine sehr hübsche Frau geheiratet… Das muss jetzt fünfundzwanzig Jahre her sein. Ihr Name war Dolly. Sie hatte die vollkommenste Haut, die man sich nur vorstellen kann. Und so wunderschöne Augen und wohlgestaltete Züge.« Sie hielt inne, und auf ihrem Gesicht spiegelten sich Zorn, Mitleid und Verwirrung. Die Erinnerung schmerzte sie.
Hester wartete.
»Ich glaube, sie waren glücklich miteinander«, fuhr Martha fort. »Sam himmelte sie an. Sie bekamen ein Kind, ein kleines Mädchen. Phemie nannten sie es. Das war Dollys Idee. Sam hatte der Kleinen einen biblischen Namen geben wollen , irgendetwas Altmodisches.« Sie nippte an ihrem Tee. »Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er zu mir kam, um es mir zu erzählen.« Sie hielt inne und brauchte einen Augenblick, um ihrer Gefühle Herr zu werden. Sie holte tief Luft, und ihre magere Brust hob und senkte sich vor Anstrengung. »Das Kind war nicht in Ordnung.« Ihre Stimme brach. »Die kleine Phemie war missgebildet. Ihr Gesicht. Ihr Mund. Die Lippen waren vollkommen verzerrt. Dolly konnte sie nicht selbst ernähren. Sie war zu erregt. Sie ließ eine Amme kommen, aber selbst diese hatte Mühe, das Kind zum Trinken zu bewegen. Phemie war wirklich lange ein armes kleines Würmchen, aber am Ende überlebte sie doch.«
»Es tut mir Leid«, sagte Hester leise. Sie wusste so gut wie nichts über die Pflege von Kleinkindern. Sie hatte stets nur mit den Ergebnissen von Gewalt und Krankheit Erwachsener zu tun gehabt. Der Gedanke an ein so kleines Geschöpf, das um sein Leben kämpfte, hatte etwas besonders Herzzerreißendes.
Martha nahm noch einen Schluck Tee. »Erst als ungefähr zwei Jahre später Leda zur Welt kam, wurde klar, dass Phemie außerdem taub war.«
Hester schwieg. Sie sah an Marthas Gesicht, dass diese versuchte, sich zu fassen, um weiterzusprechen.
»Auch Leda war missgebildet«, fuhr Martha schließlich im Flüsterton fort. »Es waren ihr Mund und ein Auge. Sie konnte sehen, aber wie ihre Schwester so gut wie nichts hören.« Sie blickte Hester an und wartete darauf, dass sie etwas sagen würde.
»Es tut mir so Leid.« Hester konnte nur versuchen, sich vorzustellen, was die Mutter empfunden haben musste. Sie konnte die Angst um die Zukunft der Kinder nur erahnen, die sie in eine Welt geboren hatte, die sie mit furchtbarer Grausamkeit behandeln würde, manchmal sogar, ohne sich dessen bewusst zu sein. Was würde aus ihnen werden, wenn sie nicht mehr da war, um sie zu beschützen, zu verteidigen und zu lieben?
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Sam liebte die Kinder«, antwortete Martha, biss sich auf die Lippen und starrte ins Leere. »Er kümmerte sich um sie, selbst als Dolly so aus dem Gleichgewicht geraten war, dass sie es nicht schaffte.« Sie hielt abermals inne und war einen Augenblick lang nicht im Stande weiterzusprechen.
Hester saß reglos da.
»Dann starb Sam«, sagte Martha abrupt. »Es war etwas mit seinem Magen. Es ging sehr schnell. Dolly kam ohne ihn nicht zurecht. Sie war von Schmerz überwältigt. Phemie und Leda kamen in ein Heim, und Dolly
Weitere Kostenlose Bücher