Tödliche Täuschung
von seinen Erlebnissen dort erzählt…«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Sie hätten ihn nicht dazu ermutigen dürfen, Miss Latterly. Es tut nie gut, lange über Tragödien und über unangenehme Dinge im Allgemeinen nachzugrübeln. Da wird man zu leicht morbid… niedergeschlagen, Sie wissen schon. Und für Perdita ist das völlig unpassend. Würde sie nur unnötig aufregen.«
»Ich glaube nicht, dass es unnötig wäre, Mr. Sheldon«, erwiderte sie. »Es ist die erschütterndste Erfahrung, die er in seinem ganzen Leben gemacht hat…«
»Nun, wirklich…«
»Und er kann es nicht vergessen«, fuhr sie fort, ohne sich um seinen Einwurf zu kümmern. »Man vergisst Freunde nicht, nur weil sie tot sind, und das Ganze war zu grausam und liegt noch nicht lange genug zurück, um nicht jeden Tag in seine Gedanken zu dringen. Wenn sie als Ehefrau und Gefährtin irgendetwas wert sein will, wie sie behauptet hat, muss sie zumindest einen Teil seiner Erfahrungen mittragen.«
»Sie verlangen zu viel, Miss Latterly«, wies er sie zurecht und schüttelte abermals den Kopf. »Und wenn ich das sagen darf , ungehörigerweise. Eine junge Frau, eine Dame von Perditas Herkunft, sollte von Dingen, wie sie sich in Indien zugetragen haben, nichts wissen. Einen Teil ihres Charmes, ihren großen Wert für das Leben eines Mannes, macht doch gerade die Tatsache aus, dass sie eine sichere Insel für ihn darstellt, unberührt von den Tragödien der Welt. Das ist etwas Wunderschönes, Miss Latterly. Versuchen Sie nicht, das zu zerstören oder es den beiden zu rauben.« Er lächelte, als er diese letzten Worte sprach, und ein ruhiger, zuversichtlicher Ausdruck kehrte in seine Züge zurück. Sie wusste, dass er nicht nur sie, sondern auch sich selbst überzeugen wollte. Er brauchte diese Insel, zumindest um sie in Gedanken aufsuchen zu können, wenn auch nicht mehr. Es waren seine eigenen Träume genauso wie die Gabriels, die er schützen wollte.
Ob es irgendeinen Sinn hatte, wenn sie versuchte, ihn dazu zu zwingen, die Wirklichkeit zu sehen?
»Mr. Sheldon, wenn wir unser Entsetzen und unseren Schmerz mit einem anderen Menschen teilen, schaffen wir damit eine Verbindung zu der betreffenden Person, die nur selten wieder zerstört wird. Sollten wir nicht Mrs. Sheldon die Chance geben, diejenige zu sein, mit der Gabriel seine Erfahrungen teilt?«
Er sah sie stirnrunzelnd an.
»Ich meine«, fuhr sie eilig fort, »sollten wir nicht ihr die Entscheidung überlassen, ob sie das möchte oder nicht?«
»Nicht sehr logisch, meine liebe Miss Latterly«, sagte er mit einem gehetzten Lächeln. »Da sie keine Ahnung davon hat, was sie mit ihm teilen würde, kann sie auch keine Entscheidung treffen. Nein, ich bin mir ganz sicher, dass wir sie nicht damit belasten dürfen.« Seine Entschlossenheit nahm zu. »Es ist unsere Pflicht, sie zu beschützen - meine Pflicht, bei der Sie mir von großem Nutzen sein werden.«
»Mr. Sheldon…«, hakte sie nach.
Aber er hob mit einem breiten Lächeln die Hand. »Wir müssen Zuversicht haben, Zuversicht und Stärke, Miss Latterly. Wir werden es schaffen. Ich darf doch darauf vertrauen, dass Sie eine gläubige Christin sind? Ja, natürlich sind Sie das. Sie könnten unmöglich die vielen guten Werke tun, von denen ich bereits Kenntnis habe, wenn Sie keine Christin wären. Nach vorn!« Er hob den Arm. »Wir müssen nach vorn schauen, und wir werden alle Unbill überwinden.« Er schob sich an ihr vorbei und ging mit federndem Schritt die letzten Stufe der Treppe hinunter.
Hester fluchte leise und benutzte Worte, die laut auszusprechen sie sich geschämt hätte. Dann nahm sie denselben Weg zurück, den sie gekommen war.
Am Abend saß Hester über einer Flickarbeit, die nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Martha kümmerte sich um solche Dinge, und sie ließ von einer Woche zur nächsten kaum etwas liegen. Hester konnte sich nicht auf ihr Nähzeug konzentrieren, aber müßig herumzusitzen wäre noch schlimmer gewesen.
Es klopfte.
»Herein«, sagte sie erleichtert.
Martha trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Sie sah müde und mutlos aus.
»Haben Sie Zeit, sich zu mir zu setzen?«, lud Hester sie ein.
Sie legte ihre Näharbeit beiseite. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
Martha lächelte. »Ich hole welchen. Sicher hätten Sie auch gern eine Tasse, nicht wahr?«
»Vielen Dank«, antwortete Hester, »ja, gern.«
Martha reichte ihr einen Brief. »Das hier ist mit der letzten Post für Sie
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