Tödliche Täuschung
einen Antrag machte, aber ich würde ihn mit Sicherheit ablehnen.«
»Den Vorschlag habe ich auch schon gemacht«, erwiderte Rathbone. »Er hatte Angst, dass sie vielleicht doch ja sagen würde, und dann wäre er wieder genau da, wo er jetzt steht, und er weigert sich kategorisch, diese Ehe einzugehen, will mir aber nicht sagen, warum.«
Hester brach in Gelächter aus, hatte sich aber gleich wieder unter Kontrolle.
»Was für eine unbeschreibliche Arroganz!«, entfuhr es ihr.
»Sie müsste vollkommen verrückt sein, den Antrag unter diesen Umständen anzunehmen. Er würde ihr damit lediglich Gelegenheit geben, diejenige zu sein, die nein sagt. Hinter der Geschichte steckt mehr!«
»Vielleicht ist er bereits verheiratet?«, meldete Gabriel sich zu Wort. »Vielleicht ist es eine unglückliche Ehe, ein Arrangement , auf das er nur wenig Einfluss hatte, eine familiäre Verpflichtung, und er ist vor ihr weggelaufen, hat sich in diese Frau verliebt, muss aber nun erkennen, dass er mit einer zweiten Ehe Bigamie beginge! Nur dass er es niemandem erzählt, weil er nicht möchte, dass seine Frau davon erfährt!«
»Das klingt durchaus plausibel«, meinte Rathbone.
»Vorausgesetzt, seine Familie würde weit entfernt leben, vielleicht in Schottland oder Irland. Er ist jedenfalls erpicht darauf, sich in London einen Namen zu machen.«
»Ihm steht der Sinn nach Höherem«, sagte Athol geringschätzig. »Mehr Geld, eine Familie mit besseren Beziehungen.«
»Nun, wenn er den Gerichtsprozess wegen eines gebrochenen Versprechens verliert, verspielt er damit alle Chancen, die er vielleicht gehabt hätte!«, stellte Gabriel fest. Er sah Rathbone an. »Sagten Sie nicht, die junge Dame sei eine Erbin?«
»Ja, die Erbin eines sehr beträchtlichen Vermögens«, antwortete Rathbone. Dann wandte er sich wieder an Hester.
»Und ich habe den deutlichen Eindruck, dass sein Beweggrund Angst, ja sogar Panik ist, und nicht Habgier. Er ist sich vollauf im Klaren darüber, dass der Vater dieses Mädchens wie geschaffen dafür ist, seine Karriere zu fördern, was er ja bisher auch getan hat. Nein, der Mann befindet sich zweifelsfrei in einer Situation, die für ihn unerträglich ist, aber ich weiß nicht, weshalb!«
Athol schnaubte. »Wenn er es Ihnen nicht mitteilen will, dann ist es etwas, dessen er sich schämt! Ein ehrenwerter Mann würde seine Gründe darlegen.«
Das war eine sehr gewagte These, aber noch bevor Rathbone widersprechen konnte, wurde ihm klar, dass es die Wahrheit war.
»Vielleicht liebt er jemand anderen?«, überlegte Hester.
»Aber warum sagt er mir das nicht einfach?«, fragte Rathbone. »So etwas zu verstehen wäre doch wirklich nicht schwierig. Vielleicht könnte ich es nicht gut heißen, aber wenigstens wüsste ich dann, mit welchen Argumenten ich mich auseinander setzen müsste.«
Hester dachte einen Augenblick lang nach.
»Man bekommt nicht immer, was man will, nur weil man es will«, bemerkte Athol säuerlich. »Es gibt da auch so etwas wie Pflicht.«
»Vielleicht ist es jemand, dem er sich nicht erklären kann?« Hester sah Rathbone an, der genau wie Athol immer noch stand , weil es nicht genügend Stühle gab.
»Dem er sich nicht erklären kann?«, wiederholte Rathbone.
»Warum nicht? Sie meinen jemanden, der bereits verheiratet ist? Vielleicht eine enge Freundin von…« Er hielt inne, weil er drauf und dran gewesen war, den Namen der Lamberts zu erwähnen.
»Warum nicht?«, sagte sie. »Oder…«
»Dergleichen kommt vor«, meinte er kopfschüttelnd. »Dessen müsste man sich nicht schämen. Es ist unangenehm, vielleicht auch peinlich, aber diesen Skandal wäre es gewiss nicht wert.«
»Was ist mit ihrer Mutter?«
»Was?«, fragte Rathbone ungläubig. Der Gedanke war absurd.
Athol hatte Hesters Bemerkung vollkommen missverstanden.
»Ich glaube nicht, dass die arme Frau etwas weiß«, warf er ein.
»Wenn ja, hätte sie die Sache nicht vor Gericht gebracht.« Er schüttelte den Kopf.
»Hester meint, der Mann könnte in die Mutter des Mädche ns verliebt sein«, setzte Gabriel seinen Bruder ins Bild. »Und selbst wenn die Mutter das wüsste, würde dieses Wissen sie nicht davon abhalten, den Prozess zu befürworten, weil sie es wohl kaum ihrem Mann erzählen könnte, oder?«
»Gütiger Gott!« Athol war ehrlich erstaunt.
Rathbone fasste sich wieder. »Ich nehme an, so etwas wäre möglich«, sagte er langsam und dachte an Delphines hübsches Gesicht, ihre Zartheit, die Anmut ihrer Bewegungen.
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