Tödliche Täuschung
noch im Dienst der indischen Armee stand. Er ist erst seit kurzer Zeit wieder zu Hause.«
»Guten Tag, Lieutenant Sheldon«, sagte Rathbone ernst. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir zu erlauben, Miss Latterly in Ihrem Haus aufzusuchen, noch dazu ohne jegliche Vorwarnung. Ich hätte mir eine solche Freiheit niemals genommen, wäre die Sache nicht von großer Dringlichkeit für mich und meinen gegenwärtigen Mandanten.«
Gabriel war noch immer damit beschäftigt, seine Verlegenheit zu überwinden. Das war das erste Mal seit seiner Rückkehr, dass er sich einem Fremden gegenübersah.
»Sie sind mir willkommen«, sagte er ein wenig heiser, dann hüstelte er und räusperte sich. »Das klingt nach einer ernsten Angelegenheit.«
»Ich bin Rechtsanwalt«, erwiderte Rathbone, fest entschlossen, ein normales Gespräch zu führen. »Und ich habe im Augenblick einen Fall, zu dem ich gern die Meinung einer Frau gehört hätte. Ich gestehe, dass ich mittlerweile vollkommen verwirrt bin.«
Gabriel gab sich interessiert, und Rathbone hatte keine Mühe, dem Blick des anderen Mannes standzuhalten. Es fiel ihm auch nicht schwer, die grauenvolle Narbe und die Lippen nicht anzustarren, die von dieser Narbe verzerrt wurden.
»Handelt es sich um ein Kapitalverbrechen?«, fragte Gabriel und entschuldigte sich dann sofort. »Es tut mir Leid, es geht mich natürlich nichts an. Verzeihen Sie.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Rathbone spontan. »Die Sache wird nur dann ernst, wenn mein Mandant den Prozess verliert, aber die Anklage selbst ist relativ geringfügig. Er steht wegen eines gebrochenen Gelöbnisses vor Gericht.«
»Oh!« Gabriel sah überrascht auf, und Rathbone hatte das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben. Verglichen mit dem, was Gabriel erlebt und wovon Rathbone nur in der Zeitung gelesen hatte, schien es fast wie eine Beleidigung, ihm gegenüber eine solche Nichtigkeit auch nur zu erwähnen.
Er blickte in Hesters Richtung, um ihre Reaktion zu beurteilen. Würde sie den Fall ebenfalls als lächerlich abtun?
»Ein gebrochenes Gelöbnis?«, sagte sie langsam und erwiderte seinen Blick.
Plötzlich wurde ihm klar, wie wenig er über sie wusste.
Warum war sie überhaupt auf die Krim gegangen? Hatte jemand sie enttäuscht, so wie Melville Zillah Lambert? Hatte sie selbst diese Demütigung erfahren? Auf einmal galt seine ganze Sympathie Zillah, nicht mehr Melville.
„Ja…« Er suchte nach Worten, mit denen er den Vorfall hätte abschwächen können. »Ich glaube, das Verhalten des jungen Mannes entspringt eher einem Missverständnis als vorsätzlicher Herabwürdigung. Er schwört, er hätte sie nicht einmal gebeten, ihn zu heiraten. Man hat es einfach als selbstverständlich vorausgesetzt. Das ist der Grund, warum ich überhaupt bereit war, den Fall zu übernehmen. Jetzt stelle ich fest, dass ich seine Motive nicht begreife, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er mir etwas von allergrößter Wichtigkeit vorenthält, aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte.«
Athol schüttelte den Kopf. »Ein Mann ohne Ehre im Leib« , sagte er. Zum ersten Mal seit sie den Raum betreten hatten, erhob er die Stimme. »Wenn man einmal sein Wort gegeben hat, muss man es auch halten, egal, was kommt. Das Wort eines Mannes sollte ihn für sein ganzes Leben binden… wenn nötig, sogar bis zum Tod.« Er sah flüchtig zu seinem Bruder hinüber.
»Natürlich, wenn sich die Umstände ändern, dann bietet man einer Frau an, sie freizugeben. Das ist etwas ganz anderes.« Er drehte sich stirnrunzelnd zu Rathbone um. »Hat sie sich verändert, diese Frau? Hat sie ihn wegen irgendetwas belogen? Sie sagten, sie sei von großer Tugend, nicht wahr? Oder habe ich das nur als selbstverständlich vorausgesetzt?«
»So weit ich weiß, ist sie eine durch und durch tugendhafte Frau«, erwiderte Rathbone. »Sie scheint in jeder Hinsicht genau das zu sein, was ein Mann sich wünschen kann. Und mein Mandant schwört, dass sie seines Wissens ohne Fehl und Tadel ist.«
»Dann scheint er ein Lump zu sein, Sir«, erklärte Athol. »Sie können ihn nicht verteidigen, weil es keine Verteidigung für ihn gibt. Es ist ganz offensichtlich Ihre Pflicht, dass Sie ihn dazu bringen, sein Versprechen zu halten und sich kniefälligst zu entschuldigen.«
»Jetzt würde sie ihn wahrscheinlich nicht mehr haben wollen«, meinte Hester. »Mir würde es jedenfalls so gehen. Vielleicht wäre es ein besseres Gefühl, wenn er mir
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