Tödliche Täuschung
er in den Elendsvierteln der Stadt, nicht weit von diesem Haus entfernt, gesehen hatte. Aber er war dankbar dafür, dass er nicht auch noch das Leid des Krieges hatte miterleben müssen, nicht wütend.
Er warf Hester einen Blick zu, beseelt von dem Wunsch, dass sie erkannte, wie sehr er mit ihr übereinstimmte und sie bewunderte. Gabriel Sheldon musste sich verzweifelt danach sehnen, mit einem Menschen offen über seine Erlebnisse sprechen zu können. Man kann der Wahrheit nur für eine begrenzte Zeit ausweichen, dann schnürt sie einem die Luft zum Atmen ab.
»Vielleicht sollten wir besser nach unten gehen?«, fragte er laut. »Ich bin überzeugt, dass die Angelegenheit, über die ich mit Miss Latterly sprechen wollte, noch ein Weilchen warten kann.«
»Oh…« Athol hatte offensichtlich ganz vergessen, wer er war. »Gut… gut. Ja, vielleicht sollten wir das tun. Und über etwas anderes reden, was? Möchten Sie vielleicht ein Glas Whisky, Mister…?«
»Monk. Ja, gern.« Er drehte sich um und folgte Athol durch den Flur und die Treppe hinunter. Er wäre lieber geblieben, um noch mit Hester zu reden, aber er wusste, dass das im Augenblick nicht möglich war.
Allerdings überraschte sie ihn. Er hatte kaum die Tür zum Salon hinter sich zugezogen, als Hester eintrat.
»Hat er sich gefangen?«, fragte Perdita sofort. Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Ja«, versicherte Hester ihr lächelnd. »Machen Sie sich keine Sorgen um ihn. Diese Erinnerungen kommen einfach von Zeit zu Zeit wieder hoch. Keinem von uns würde es anders ergehen.« Athol runzelte die Stirn und machte einen kleinen Schritt nach vorn, aber Perdita schien ihn gar nicht zu bemerken, da sie sich ganz auf Hester konzentrierte.
»Ich verstehe einfach nichts davon«, flüsterte sie. »Ich habe niemals etwas wirklich Schreckliches miterlebt. Es ist, als sei ich tausend Meilen von ihm entfernt, als liege ein Ozean zwischen uns, und ich weiß nicht, wie ich ihn überqueren soll. Ich begreife es ja nicht einmal. Ich habe nie Alpträume.«
»Wirklich nicht?« Hester sah sie zweifelnd an. »Waren Sie nicht entsetzt und innerlich gebrochen…«
»Miss Latterly!«, rügte Athol sie scharf.
»Nein!« Monk legte Athol eine Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»… als Sie Gabriel nach seiner Rückkehr das erste Mal sahen?«, beendete Hester ihren Satz.
»Nun…« Die Erinnerung stand Perdita deutlich ins Gesicht geschrieben, und sie rang um Worte und wusste nicht, was sie sagen sollte. »Nun… ich…« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja… genauso… habe ich mich gefühlt.«
»Haben Sie es nicht auch manchmal vergessen und sind mit dem Gefühl aufgewacht, als wäre alles noch beim Alten? Und dann ist es Ihnen plötzlich wieder eingefallen, und Sie mussten es noch einmal von vorn durchleben?«
»Ja!« Plötzlich wusste Perdita, was Hester meinte und klammerte sich daran fest, als würde es sie vor dem Ertrinken retten. »Ja, so ist es.«
»Dann wissen Sie, was Alpträume sind«, sagte Hester. »Es ist dieses Entsetzen, alles noch einmal zu erleben und den Schmerz zu spüren wie beim ersten Mal - nur dass es wieder und wieder geschieht.«
»Der arme Gabriel. Meinen Sie, wenn ich etwas…«, sie sah Hester ernst an, »wenn ich etwas über die Geschichte Indiens lesen würde, wie Sie vorgeschlagen haben - ob ich ihm dann besser zuhören und von größerem Nutzen sein könnte?«
»Ich glaube wirklich nicht…«, begann Athol.
Perdita drehte sich zu ihm. »Ach, sei doch still!«, sagte sie scharf. »Mir wäre es auch lieber, nichts über die Qualen und den Tod dieser Menschen zu erfahren und mir einzubilden, diese Welt sei überall so sicher wie hier. Aber das stimmt nicht, und in meinem Herzen weiß ich es. Wenn ich auf ewig ein Kind bleiben will, werde ich Gabriel verlieren…«
»Unfug, meine Liebe »Sag mir nicht, es sei Unfug!«, fuhr sie ihn an und ballte die Hände zu Fäusten. »Er muss darüber sprechen können. Wenn er nicht mit mir redet, dann wird er sich an Hester wenden. An dich ganz bestimmt nicht! Du weißt ja nicht mehr über Indien als ich! Nicht darüber, wie es wirklich war, über die Hitze und den Staub und die Krankheiten, die Fliegen und die Grausamkeit, den Tod. Du weißt nicht, was mit ihm passiert ist! Und ich auch nicht… aber ich werde es herausfinden!«
»Du bist übermüdet«, sagte er und nickte heftig. »Das ist kaum überraschend. Du hast eine höchst schwierige Zeit hinter dir. Jede Frau
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