Tödliche Täuschung
nicht. Er ist nicht in England gestorben, der arme Kerl. Der ganze indische Aufstand und insbesondere die Belagerung von Cawnpore und ihre Gräueltaten sind Themen, bei denen man besser nicht verweilt.« Sein Tonfall war bestimmt, als sei das, was er sagte, ein Befehl, aber er machte noch immer keine Anstalten zu gehen. Plötzlich dämmerte Monk, dass Athol von Hester abhängig war. Er mochte sie herablassend behandeln oder in ihr eine Frau und damit zwangsläufig ein Wesen von minderem Intellekt und minderen Fähigkeiten sehen, aber er wusste, dass sie die innere Stärke besaß, mit dem Grauen und den Tragödien des Lebens fertig zu werden, eine Stärke, die ihm selbst fehlte.
Ein geradezu lächerlicher Stolz stieg in Monk auf.
»Mr. Sheldon.« Hester ließ Gabriel sanft in die Kissen sinken , erhob sich und strich sich dann mit einer Hand ihre zerknitterten Röcke glatt. »Wenn es Gabriel gewesen wäre, der in Cawnpore den Tod gefunden hätte, oder Ihre Gattin oder eines Ihrer Kinder - und es gab hunderte von Frauen und Kindern unter den Toten - , was würden Sie davon halten, wenn deren Freunde versuchten , sie zu vergessen?«
»Nun, ich - ich denke, ich würde es verstehen, wenn sie damit ihr eigenes Gemüt vor Alpträumen schützen wollten…«, hob Athol an.
»Oh, es geht Ihnen nicht darum, Gabriel zu schützen«, unterbrach sie ihn. »Es geht darum, dass Sie selbst nichts darüber zu hören wünschen und dass Sie glauben, bei uns anderen verhielte es sich ebenso.«
»Unsinn!«, protestierte er ein wenig zu schnell. »Ich möchte , dass Gabriel gesund wird, dass er sein altes Leben wieder aufnimmt - zumindest… zumindest so weit er es kann. Und ich möchte Perdita vor Dingen bewahren, von denen eine Frau nichts wissen sollte. Also wirklich, Miss Latterly.« Seine Stimme wurde lauter, und seine Zuversicht wuchs. »Wir haben dieses Thema schon einmal besprochen. Ich dachte, wir hätten uns verstanden. Dieses Haus soll eine Zuflucht vor der Hässlichkeit und den Gräueltaten der Welt sein, ein Ort, an dem insbesondere Gabriel seinen Frieden finden und sich an Geist und Seele von den Schrecken des Kriegs erholen kann, ein Ort, an dem er sich absolut sicher fühlt…« Er fand sichtlich Gefallen an seiner Rede, denn seine Züge hatten sich entspannt, und um seine Lippen spielte ein schwaches Lächeln. »Es ist Perditas Aufgabe, dies alles zu gewährleisten, und unsere, sie dabei in jeder nur erdenklichen Weise zu unterstützen.« Er fuhr herum und sah Perdita an. Seine Augen strahlten sie an. »Und du darfst versichert sein, meine Liebe, dass wir uns dem gewachsen zeigen werden!«
»Ich danke dir, Athol«, erwiderte sie hilflos. An ihrer Miene ließ sich unmöglich erkennen, ob sie erleichtert oder eingeschüchtert war.
Die Dienstbotin hinter ihr hielt noch immer den Blick unverwandt auf Hester gerichtet.
Monk drehte sich wieder zu ihr herum.
Der Mann im Bett richtete sich auf und wandte sich ihnen zu.
Seine Haut war gerötet und sein Gesicht entsetzlich entstellt. Eine Woge des Mitleids wallte in Monk auf.
»Ich weiß, dass Sie sich dieser Aufgabe gewachsen zeigen werden, Mr. Sheldon«, sagte Hester. Ihre Stimme klang sanft , aber sehr klar und bestimmt. »Und es wird ein Ort der Sicherheit sein…«
»Gut - gut…«, begann er.
»… aber es wird Gabriel nicht helfen, wenn Sie ihn zu etwas zwingen, wozu er noch nicht bereit ist«, fuhr sie fort. »Ein Gefängnis ist ein Ort, an dem man nicht sein will und dem man nicht entfliehen kann.«
»Also wirklich! Miss Latterly…«, protestierte Athol.
»Hör auf, über mich zu reden, als sei ich nicht anwesend, Athol.«
Es war das erste Mal, dass Gabriel etwas sagte. Sein Gesicht mochte zerstört sein, seine Stimme jedoch war no ch immer klar und von ungewöhnlicher Klangfarbe.
»Ich habe einen Arm verloren, nicht den Verstand. Ich möchte nicht vom Leben abgeschirmt werden, als hätte ich einen Nervenzusammenbruch gehabt oder litte an Hysterie. Davon, dass wir so tun, als hätte es Cawnpore nie gegeben, werden meine Alpträume nicht besser, und ich möchte meine Freunde nicht vergessen, als hätten sie nie gelebt, als seien sie nie gestorben. Das wäre Verrat. Sie haben Besseres verdient. Gott weiß, dass es so ist!« In seiner Stimme lagen so viel Zorn und Schmerz, dass sogar Athol betroffen schwieg.
Nur Hester hatte den Krieg so erlebt wie er. Selbst Monk wusste, dass er von dieser Erfahrung ausgeschlossen war, trotz all der Armut und des Leids, das
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