Tödliche Täuschung
würde…«
»Hör auf damit!«, rief sie laut. Sie war den Tränen nahe. »Hör auf, mit mir zu reden, als sei ich ein Kind! Ich weiß, dass ich schwach bin! Hester war auf der Krim und hat sterbende Männer gepflegt, hat Grausamkeiten miterlebt, von denen wir in unseren schön gebügelten Zeitungen, die der Butler uns auf einem Tablett serviert, noch nicht einmal gelesen haben! Und was habe ich getan? Ich habe zu Hause gesessen, dumme kleine Bildchen gemalt, Deckchen gestickt und die Wäsche geflickt! Nun, ich weigere mich, länger so nutzlos herumzusitzen! Ich habe - ich habe Angst!«
Athol war entsetzt. Er wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte und starrte zugleich ärgerlich und flehend Hester an. Er hasste sie dafür, dass sie diese Krise heraufbeschworen hatte, und doch brauchte er sie, um damit fertig zu werden, ein Umstand, der ihm zutiefst zuwider war.
Monk wartete darauf, dass Hester die Geduld mit Perdita verlor. Sie hatte vollkommen Recht, sie war nutzlos und hatte sich wie ein Kind vor der Wirklichkeit versteckt.
»Angst zu haben ist nichts Schlimmes«, sagte Hester zuversichtlich und stellte sich neben Perdita. »Die meisten von uns haben Angst. Was zählt, sind nicht unsere Gefühle, sondern das, was wir tun. Gabriel hat sicher nichts dagegen, wenn Sie Angst haben, denn dann wird er wissen, dass Sie zumindest ein wenig von seiner Geschichte verstehen. Alles kann niemand verstehen.«
»Sie verstehen es.«
Hester lachte. »Unfug! Ich weiß lediglich, wie es ist, Schmerzen mit ansehen zu müssen, die man nicht lindern kann , selbst Angst zu haben, seinen Körper bis an die Grenze der Erschöpfung zu treiben, dass man nicht einmal mehr die Kraft zum Weinen hat.« Sie nahm sie am Arm. »Jetzt trinken Sie einen ordentlichen Sherry oder etwas anderes, und dann gehen Sie zu ihm nach oben.«
»Aber Sie sind es, mit der er reden will!«, wand te Perdita ein.
Ihre ganze Haltung drückte Widerstreben aus.
»Angst?«, fragte Hester mit einem Lächeln.
»Ja!« Perdita wich zurück.
»Dann ist dies der Augenblick, Mut zu fassen«, sagte Hester.
»Stellen Sie sich vor, wie viel schlimmer es den Soldaten ergehe n muss, wenn sie die Order zum Angriff erhalten! Was ist das Schlimmste, das Ihnen passieren kann? Sie können in der Achtung Ihres Mannes sinken! Sie werden weder Arm noch Bein verlieren, noch verbluten oder…«
»Das genügt!«, unterbrach sie Athol wütend. »Sie vergessen sich, Miss Latterly!«
Perdita schluckte, drehte sich dann sehr langsam um und starrte ihn wütend an.
»Sie hat vollkommen Recht! Ich gehe nach oben zu Gabriel. Bitte warte nicht auf mich. Ich weiß nicht, wann ich wieder unten sein werde.« Und o hne seine oder Hesters Reaktion abzuwarten, marschierte sie aus dem Raum.
»Trinken Sie einen Whisky«, schlug Monk Athol vor, obwohl seine Worte eher wie ein Befehl klangen. Er war unglaublich stolz auf Hester, als habe er selbst Anteil an ihrem Verhalten. Das war natürlich absurd, aber sie waren Freunde und verstanden sich in vieler Hinsicht näher als Mann und Frau. Sie hatten zusammen Triumphe gefeiert und Katastrophen erlebt, kannten einander und wussten um die guten und schlechten Zeiten beim anderen. Er vertraute ihr mehr als irgendjemandem sonst.
Athol nahm den Whisky und stürzte ihn hinunter, um sich gleich noch ein Glas einzuschenken. Er vergaß dabei, auch Monk etwas zu trinken anzubieten, so verwirrt war er.
Hester wandte sich an Monk. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er dachte oder fühlte.
»Möchten Sie immer noch über diesen Fall reden, der Ihnen Schwierigkeiten bereitet?«, fragte sie, als hätten sie ihr Gespräch erst vor wenigen Sekunden unterbrochen.
Er verspürte kein Bedürfnis danach, denn es gab im Grunde nichts zu sagen. Andererseits wollte er auch noch nicht gehen.
»Wenn Sie die Zeit erübrigen könnten, gern«, antwortete er.
»Gewiss.« Sie drehte sich zu Athol um. »Ich werde oben sein, falls man mich braucht, Mr. Sheldon, aber ich glaube, das wird erst zur Schlafenszeit notwendig sein.«
»Was? Oh. Ja, ich denke, Sie haben für einen Tag wirklich genug getan.« Er war unzufrieden, und er wollte es sie wissen lassen.
Monk beobachtete sie genau und konnte in ihrem Gesicht keine Zeichen von Verlegenheit oder Zweifel erkennen.
Sie führte ihn aus dem Raum und die Treppe hinauf in ein kleines Wohnzimmer, das sie mit der hageren Zofe Martha Jackson teilte. Sie saßen in tiefen, chintzüberzogenen Sesseln, und er
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