Tödliche Therapie
Schrank und ging in ein leeres
Behandlungszimmer, wo sie einer Schachtel zwei Paar Handschuhe entnahm. Dann
begleitete sie mich zu ihrem Auto, das hinter der Praxis geparkt war. Besorgt
verabschiedete sie sich von mir. „Sei vorsichtig, Vic. Es war kein guter
Sommer für mich, und ich möchte nicht, daß auch dir noch was passiert.“
Ich neige nicht zu Gefühlsausbrüchen, aber ich
umarmte sie und gab ihr einen Kuß auf die Backe, bevor ich einstieg. „Ich bin
selbst etwas nervös. Ich werde dich heute abend anrufen, aber wahrscheinlich
wird es spät werden. Wenn ich mich dumm anstelle oder unvorsichtig bin, dann
sag Murray, wohin ich gefahren bin.“
Sie nickte und kehrte zurück in die Praxis. Ihre
Schultern hingen nach vorn, und sie sah so alt aus, wie sie war. Lotty fährt
schnell und halsbrecherisch. Leider entspricht ihr fahrerisches Geschick nicht
ihrer Unerschrockenheit, und im Lauf der Jahre hatte die Gangschaltung etwas
unter ihrer Burschikosität gelitten. Das Schalten im Stadtverkehr verlangte mir
Geduld und meine ganze Aufmerksamkeit ab, und ich war nicht sicher, ob ich
nicht doch verfolgt wurde. Ein paar Meilen außerhalb der Stadt fuhr ich an den
Straßenrand und hielt an. Kein Auto verlangsamte, und als ich mich nach fünf
Minuten wieder in den Verkehr einfädelte, ließ mich niemand überholen, um sich
anschließend an meine Fersen zu hängen.
In den Vororten im Nordwesten war die Hitze noch
unerträglicher. In der Nähe des Sees ist es im Sommer immer zwei, drei Grad
kühler als hier. Lottys Einstellung, sich das Leben möglichst schlicht zu
gestalten, bedeutete, daß ihr Auto natürlich nicht klimatisiert war. Ich zog
die Kostümjacke aus, aber unter den Achseln hatten sich schon häßliche
Schweißflecken auf der Seidenbluse gebildet. Als ich die Route 58 verließ und
Richtung Süden auf das Krankenhaus zusteuerte, kam ich mir vor, als ob ich drei
Tage lang barfuß durch Death Valley gelatscht wäre. Ich stellte das Auto auf
dem Besucherparkplatz ab und betrat das Krankenhaus durch den Haupteingang.
Alan Humphries und die Angestellte in der Notaufnahme waren die einzigen
Personen gewesen, die mich flüchtig gesehen hatten, als ich vor vier Wochen zum
erstenmal hier war. Damals hatte ich Jeans getragen. Sollten sie mir heute
zufällig über den Weg laufen, würden sie mich für eine Besucherin halten und
mich wahrscheinlich keines zweiten Blickes würdigen.
Ich fand eine Toilette, wo ich mir Gesicht und Hals
wusch, den Straßenstaub aus meinem Haar kämmte und versuchte, meine
professionelle Erscheinung wiederherzustellen. Nachdem ich getan hatte, was in
meiner Macht lag, ging ich zum Informationsstand in der Eingangshalle zurück.
Eine adrette weißhaarige Frau, bekleidet mit dem rosa Kittel, der die freiwilligen
Helfer kennzeichnet, lächelte mir zu und fragte, was sie für mich tun könne.
„Wo finde ich das Büro, in dem die Patientenakten
aufbewahrt werden?“
„Den Gang entlang, am Ende links, in den zweiten
Stock hinauf, und Sie stehen praktisch davor.“
„Mir ist etwas Peinliches passiert: Ich habe um elf
einen Termin mit dem Abteilungsleiter, und leider habe ich mir seinen Namen
nicht notiert.“
Sie lächelte mich verständnisvoll an und suchte in
ihrem Namensverzeichnis. „Ruth Ann Motley.“
Ich dankte ihr und ging in die von ihr bezeichnete
Richtung los. Aber anstatt die Treppe hinaufzugehen, suchte ich nach der
Notaufnahme, wohin ich vor vier Wochen Consuelo gebracht hatte. Unterwegs holte
ich Lottys Ärztekittel aus der Mappe, zog ihn an und wurde sofort Teil der
Einrichtung. Im Unterschied zur Notaufnahme in städtischen Krankenhäusern, deren
Warteräume ständig überfüllt sind mit Leuten, die es vorziehen, ins
Krankenhaus zu kommen, anstatt zu einem Hausarzt zu gehen, saß in diesem hier
nur eine Frau. Sie blickte auf, als ich rasch vorbeistrebte, wollte mich
ansprechen, lehnte sich dann jedoch wieder in ihrem Stuhl zurück.
Ich benutzte das Haustelefon an der Wand, um über
die interne Vermittlung Ruth Ann Motley in das Büro der Notaufnahme rufen zu
lassen. Nach einer kurzen Wartezeit hallte Motleys Name aus den Lautsprechern.
Ich stand in der Tür des Wartezimmers, von wo aus ich den Gang und die Tür zum
Notaufnahmebüro im Auge hatte. Nach ungefähr fünf Minuten kam eine
dunkelhaarige, große, schlaksige Frau Mitte Vierzig den Gang entlang. Sie trug
ein hellblaues Kostüm, das beim Gehen zuviel von ihren knochigen Handgelenken
und üppigen Hüften sehen
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