Tödliche Therapie
Krieg in
London kennengelernt hatte - auch er war ein österreichischer Flüchtling -, war
er in Lotty verliebt. Mehrmals hatte er sie gebeten, seine Frau zu werden, aber
sie hatte immer geantwortet, sie sei für die Ehe nicht geschaffen. Sie gingen
gemeinsam in die Oper und in Konzerte und öfter hatten sie zusammen Urlaub in
England gemacht.
Bei meiner Ankunft stand er auf und lächelte mich
mit verschmitzten grauen Augen an. Murray war noch nicht da. Ich sagte den
beiden, daß auch er kommen wollte.
„Ich dachte, Max könnte im Zweifelsfall
verwaltungstechnische Fragen beantworten“, erklärte Lotty.
Sie trinkt selten, aber Max war ein Weinkenner und
freute sich, mit mir eine Flasche trinken zu können. Er wählte einen 75er Cos
d'Estournel und öffnete die Flasche. Keiner von uns wollte essen, bevor wir
nicht meine Papiersammlung durchgegangen waren.
„Ich habe die Friendship-Akte über Consuelo. Wenn
du sie vor Gericht verwenden willst, mußt du dir eine Kopie über offizielle
Stellen besorgen.“ Ich holte die zwei Akten aus meiner Tasche und reichte sie
Lotty. „Der maschinengeschriebene Bericht ist aus Alan Humphries' Büro, der
handgeschriebene aus Peter Burgoynes Schreibtisch.“
Lotty setzte ihre Brille auf und las die Berichte,
zuerst den getippten, dann den handgeschriebenen. Ihre dichten Augenbrauen
zogen sich über der Nase zusammen, und um ihren Mund erschien ein bitterer Zug.
Ich bemerkte, daß ich die Luft anhielt und griff nach der Weinflasche. Max, der
ebenso gespannt war wie ich, hielt mich nicht zurück, obwohl der Wein sein
Aroma noch nicht voll entfaltet hatte.
„Wer ist Dr. Abercrombie?“ fragte Lotty.
„Ich weiß es nicht. Ist es der Arzt, den Peter laut
seinen Notizen versucht hat zu erreichen?“ Mir fielen die Broschüren aus
Peters Büro ein und ich holte sie aus meiner Tasche. Vielleicht war darin das
Krankenhauspersonal aufgeführt. Ich fand ein aufwendig gestaltetes Faltblatt
über die Entbindungsstation im Friendship. Unten auf einer Seite war ein ernst,
aber zuversichtlich blickender Mann abgebildet, der mit irgendeinem
elektrischen Gerät auf dem Bauch einer schwangeren Frau herumhantierte, die
ihn voller Vertrauen ansah. Das Foto war untertitelt: „Dr. Keith Abercrombie,
Facharzt für Perinatalogie, führt bei einer seiner Patientinnen eine
Ultraschalluntersuchung durch.“ Ich reichte Lotty die Broschüre mit der Bitte,
die Bildunterschrift zu erklären.
„Er kontrolliert, ob das Baby sich bewegt, ob sein
Herz normal schlägt. In einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft
kann man damit auch das Geschlecht des Kindes bestimmen. Perinatalogen sind
auf Schwangerschaftskomplikationen spezialisiert. Wenn die Geburt kompliziert
verläuft, kommt ein speziell ausgebildeter Kinderarzt dazu, ein Neonataloge.
Consuelo brauchte einen Perinatalogen. Wenn er dabei gewesen wäre, dann hätte
die kleine Victoria Charlotte vielleicht lange genug gelebt, bis ein
Neonataloge zur Stelle gewesen wäre, der ebenfalls nicht dagewesen zu sein
scheint.“
Sie nahm ihre Brille ab und legte sie auf den Tisch
neben die Papiere. „Dr. Burgoynes Problem ist offensichtlich. Das heißt, warum
er nicht wollte, daß ich seine Notizen zu sehen bekomme. Was ich nicht
begreife, ist, warum er sie nicht vernichtet hat - der maschinengeschriebene
Bericht ist ja sehr ausführlich, aber ohne die eklatante Fahrlässigkeit
aufzudecken.“
„Lotty, für dich mag es offensichtlich sein, aber
für uns nicht. Wovon redest du?“ wollte Max wissen. Er griff nach den
Unterlagen und begann, sie durchzusehen.
„In dem getippten Bericht wird erklärt, daß
Consuelo als Notfall eingeliefert wurde, der stationär aufgenommen werden mußte.
Die Wehen hatten eingesetzt, und sie war nicht bei Bewußtsein. Sie
verabreichten ihr Dextrose (Traubenzucker), um ihren Blutzuckerspiegel und
ihren Blutdruck zu normalisieren. Dann heißt es weiter, daß sie versuchten, mit
Ritodrine die Wehen zu stoppen. Dann mußten sie einen Kompromiß eingehen, da
sie die Wehen nicht stoppen konnten, ohne die Patientin umzubringen, und
deshalb haben sie das Kind geholt. Dann starb sie aufgrund von
Schwangerschaftskomplikationen. Aber Burgoynes Bericht schildert eine völlig
andere Version der Vorgänge.“
„Ja, das sehe ich.“ Loewenthal blickte auf Peters
handgeschriebene Notizen. „Er dokumentiert jeden einzelnen Schritt.“
Am liebsten hätte ich vor Ungeduld laut geschrien.
„Mein Gott, jetzt erklärt es mir doch
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