Tödliche Unschuld
neigte seinen Kopf und gab ihr einen sanften Kuss. »Oder vielleicht habe ich auch einfach Lust auf dich.«
6
S ie hatte nichts dagegen, sich ein bisschen zu bewegen. Obwohl sie, um ihr Hirn auf Trab zu bringen, statt zu schlendern lieber lief.
Roarke schlenderte tatsächlich, und nur unter großen Mühen passte sie ihre Geschwindigkeit seinen Schritten an.
Es war seltsam, wie problemlos er das Tempo drosseln konnte, dachte sie. Wie er übergangslos von Stress und Action zu Entspannung überzugehen verstand. Diese besondere Fähigkeit hatte sie noch nie gehabt.
Die Luft war schwer von Hitze, und Eve hatte das Gefühl, als flösse warmer Sirup über ihre Haut. Das grelle weiße Licht des Nachmittags war einem goldenen Abendlicht gewichen, das so weich war, als könne man es streicheln. Selbst die Hitze war hier anders, überlegte sie. Statt wie in der City vom harten Asphalt ab- und ihr dann schmerzhaft ins Gesicht zu prallen, drang sie in das Gras, die Bäume und die Blumen ein.
Aber sie spürte noch etwas anderes … Etwas verbarg sich hinter Roarkes ruhiger, gelassener Fassade wie ein scharfes Messer in einem Futteral aus Samt.
»Was ist los?«
»Der Sommer dauert nicht sehr lange.« Er führte sie einen mit Steinen ausgelegten Pfad hinab, von dem sie nicht mit Bestimmtheit hätte sagen können, dass sie ihn zuvor schon mal gegangen war. »Aber es ist immer eine Freude, wenn man ihn genießen kann. Besonders jetzt am frühen Abend. Dann ist der Garten schöner als zu jeder anderen Tageszeit.«
Sie nahm an, das stimmte, obwohl sie diesen Garten zu jeder Zeit als spektakulär empfand. Selbst im Winter zogen die bizarren Formen, Texturen und Farbtöne sie an. Momentan aber schien die Umgebung ausschließlich aus Farben und Düften zu bestehen.
Hohe, stachelige Kakteen mit leuchtend bunten, exotischen Blüten sorgten für Dramatik.
Wild wuchernde, mit winzigen Dolden übersäte Ranken verströmten einen geradezu heimeligen Charme. Alles wirkte üppig und irgendwie perfekt, ohne dass es aussah, als hätte jemand anders als Mutter Natur bei der Erschaffung dieses herrlichen Szenariums ihre Hand im Spiel gehabt.
»Wer macht überhaupt die ganze Arbeit hier?«
»Elfen, wer sonst?« Lachend zog er sie in einen laubenartigen Tunnel, in dem über ihren Köpfen Hunderte von Rosenblüten wippten, während man auf weichem, schattigem Rasen stand.
»Aus Irland importiert?«
»Selbstverständlich.«
»Hier drinnen ist es herrlich kühl.« Sie hob den Kopf und nahm durch das Dach aus Blumen ein paar Flecke Sonnenlicht und leuchtend blauen Himmel wahr. »Die Klimaanlage der Natur.« Sie fing an zu schnuppern. »Riecht nach …« Natürlich nach Rosen, dachte sie, doch so einfach war es nicht. »Riecht irgendwie romantisch.«
Sie wandte sich ihm lächelnd zu, sein Blick aber blieb ernst.
»Was?« Instinktiv spähte sie über die Schulter. Vielleicht drohte ja eine Gefahr. Vielleicht schlängelte sich eine giftige Schlange durch das Gras. »Was ist los?«
Wie sollte er erklären, was es ihm bedeutete, sie hier in dem nach Rosen duftenden Schatten stehen zu sehen und zu erleben, wie verwirrt sie von der Schönheit der Umgebung war. Groß, schlank, mit von der Sonne gebleichtem, wild zerzaustem Haar. Dass sie ihre Waffe trug wie eine andere Frau ein Collier mit teuren Perlen. Selbstverständlich, aber gleichzeitig stolz.
»Eve.« Er trat kopfschüttelnd auf sie zu, lehnte seinen Kopf an ihre Stirn und strich mit seinen Händen über ihre Arme.
Wie sollte er erklären, wie es für ihn gewesen war, mit ansehen zu müssen, wie sie unbewaffnet, ungeschützt und allein in einen Raum zu einem Wahnsinnigen gegangen war?
Und dabei zu wissen, dass er sie womöglich in der nächsten Minute verlor.
Er wusste, sie war dem Tod bereits unzählige Male begegnet. Er hatte sie dabei des Öfteren begleitet. Sie hatten bereits das Blut des jeweils anderen an ihren Händen gehabt.
Er hatte sie gehalten, wenn sie von grausigeren Träumen gepeinigt worden war, als je ein Mensch ertragen müssen sollte. Er hatte sich mit ihr gemeinsam dem Alptraum ihrer Vergangenheit gestellt.
Das hier aber war etwas anderes gewesen. Einzig ihr Mut und ihre Intelligenz hatten sie in diesem Fall geschützt. Und sich zurückhalten zu müssen, keine andere Wahl zu haben als sich zurückzuhalten und mit anzusehen, was sie tat, keine andere Wahl zu haben als zu akzeptieren, dass sie es tun musste, hatte eine unaussprechliche Furcht in seinem Inneren
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