Toedliche Worte
glatt rasiertes Kinn. »Interessant.«
»O ja, das kann man wohl sagen.« Tony trank seinen Tee aus. »Er sieht ein bisschen jung aus für diese Art von Delikten.«
»Ich nehme an, das Profil wird hin und wieder abweichen«, sagte Hart routiniert. »Da wir ja mit Durchschnittswerten arbeiten.«
»Ich gebe der Polizei auch immer zu bedenken, dass es nicht um eine exakte Wissenschaft geht. Also, was können Sie mir über ihn sagen?«
Hart sah zu Tyler hinüber, der mit seinem Essen fertig war und auf seinen leeren Teller hinunterstarrte. »Sehr wenig. Er arbeitet so wenig mit, wie ich es bei kaum einem anderen Patienten je erlebt habe. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Er schießt nicht quer – eher im Gegenteil. Er ist total passiv. In gewissem Sinn macht er überhaupt keine Schwierigkeiten. Aber in anderer Hinsicht ist er vollkommen halsstarrig. Er beteiligt sich überhaupt nicht am therapeutischen Prozess und spricht nicht. Aber katatonisch ist er nicht. Er will einfach nicht.«
»Hatten Sie mal Probleme mit ihm?«
»Nur einmal. Sie haben in ihren Zimmern eingebaute Radios und ein halbes Dutzend eingestellter Sender zur Auswahl, und wir können die Radios für Durchsagen nutzen. Derek hat seinen Apparat nie an, aber einmal stimmte irgendetwas nicht damit. Das Radio schaltete sich ein und ließ sich nicht mehr abstellen. Da drehte Derek durch. Er zerschlug alles im Zimmer und stürzte sich auf die Pfleger. Wir mussten ihn sedieren, und er weigerte sich, in sein Zimmer zurückzugehen, bis wir den Radioapparat entfernt hatten.«
Tony lächelte kurz. »Interessant«, sagte er. Sollte Hart das als Echo auf seinen eigenen Kommentar betrachtet haben, so reagierte er jedenfalls nicht darauf.
»Aber nicht sehr aufschlußssreich.«
Tony ließ das unkommentiert. Er war nicht bereit, irgendjemandem seine Gedanken mitzuteilen, schon gar nicht jemandem, dem er instinktiv Misstrauen entgegenbrachte. »Was wissen wir über ihn aus der Zeit vor den Morden?«
Tony beobachtete, wie Hart die Augen bewegte, was ihm anzeigte, dass er sich tatsächlich an etwas erinnerte und ihm keine Lügen auftischte. »Nicht viel«, sagte Hart nach kurzem Schweigen. »Borderline-Syndrom mit besonderen Bedürfnissen. In dem Bericht seines Hausarztes stand, er sei sehr beeinflussbar, bemüht zu gefallen, leicht zwanghaft. Aber nichts, was behandelt werden müsste. Und nichts, was auf eine künftige Entwicklung zum Serienmörder hinwies. Andererseits – Hausärzte, was wissen die schon?« Er lächelte ihm komplizenhaft zu, wir Experten unter uns, womit er ein wohlüberlegtes Bündnis schmiedete. Tony verstand es auch so, lehnte es aber unwillkürlich ab. Hart schob seinen Stuhl zurück. »Wollen Sie Derek kennenlernen?«
»Ich wäre dankbar, wenn Sie es einrichten könnten. Es wäre gut, wenn ich mit ihm in seinem Zimmer sprechen könnte.«
Hart war überrascht. »Normalerweise gehen wir nicht so vor. Wir unterhalten uns mit den Patienten gewöhnlich in einem der Besprechungszimmer.«
»Ich weiß. Aber ich würde gern in seinem eigenen Bereich mit ihm sprechen. Ich möchte, dass er das Gefühl hat, ein gewisses Maß an Kontrolle zu haben. Und Sie sagten ja selbst, dass er nicht gewalttätig ist.«
Tony sah, dass Hart seine Argumente überdachte, und beschloss, vorerst abzuwarten. »Also gut. Ich piepse Sie an, wenn wir so weit sind. Aber Sie werden Ihre Zeit verschwenden, das sollten Sie wissen. Seit dem Tag seiner Ankunft hat er mit keinem einzigen der ärztlichen Mitarbeiter gesprochen.«
Tony wandte den Blick nicht von Derek Tyler ab, während Hart sich geschäftig entfernte. Er sagte leise vor sich hin: »Du magst die Stimme, nicht war, Derek? Du hörst ihr gern zu. Du willst nicht, dass sie durch irgendetwas gestört wird. Was muss ich also tun, damit du meine hören möchtest?«
Als Carol drei Stunden, nachdem sie erschöpft ins Bett gefallen war, schon wieder aufstehen musste, hatte sie den Schlafmangel als Ursache für ihr Befinden angesehen. Aber im Lauf des Morgens wurde ihr klar, dass sie eigentlich einen Kater hatte. Sie fühlte sich, als zerteile jemand, der auch die Glühbirnen mehrere hundert Watt greller eingestellt hatte, ihr Gehirn mit einem feinen Draht. Trotzdem hatte der tiefe, traumlose Schlaf, der die alptraumhaften Bilder von Sandie Fosters Tod gebannt hatte, sie fast dafür entschädigt. Sie nahm einen Schluck Wasser aus ihrer Flasche und ließ den Blick über ihr Team schweifen. Alle sahen frischer aus,
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