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Toedliche Worte

Toedliche Worte

Titel: Toedliche Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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ich den Mund halte, können Sie sie hören, oder?«
    Keine weitere Reaktion von Tyler. Aber dieser eine Blick hatte Tony gezeigt, dass er auf der richtigen Fährte war. »Die Stimme kann Ihnen aber nur etwas über Dinge von früher sagen. Sie kann Ihnen nicht erzählen, was jetzt da draußen passiert. Dazu müssen Sie sich auf mich verlassen. Wissen Sie, warum das so ist? Wissen Sie, warum sie so wenig zu sagen hat? Es ist deshalb, weil Ihre Stimme jetzt mit jemand anderem spricht.«
    Tylers ganzer Körper fuhr herum und wandte sich Tony zu. Er war jetzt ganz aufmerksam, seine graublauen Augen lagen halb verdeckt unter den dicken Augenbrauen. Tony breitete versöhnlich die Arme aus. »Es tut mir leid, Derek, aber so ist es nun mal. Sie sind hier eingesperrt und können nichts mehr machen. Ich sagte Ihnen ja, dass ich mit der Polizei zusammenarbeite. Der Grund, weshalb ich gekommen bin, ist, dass jetzt ein anderer genau das tut, was Sie getan haben, Derek. Und das muss so sein, weil die Stimme nicht mehr mit Ihnen spricht. Sie spricht jetzt mit ihm.«
    Zorn flackerte in Tylers Augen auf. Seine Hände verkrampften sich, und auf seinen dünnen Armen zeichneten sich die Venen wie Schnüre ab. Tony fragte sich, ob Aidan Harts Mitarbeiter bei Tyler jemals eine derart gespannte, unterdrückte Gewalttätigkeit geweckt hatten. Er bezweifelte es. Denn wenn sie das gesehen hätten, was er jetzt vor sich sah, konnte er nicht glauben, dass man Tyler erlaubt hätte, sich bei den anderen Patienten aufzuhalten. »Das ist keine Erfindung von mir, Derek«, sagte Tony überlegt und sachlich. »Die Stimme hat Sie wegen eines anderen verlassen. Sie haben nur noch die Erinnerungen.«
    Plötzlich sprang Tyler auf und ging an Tony vorbei auf die Tür zu. Er drückte auf den Signalknopf an der Wand und schlug obendrein mit der Faust an die Tür.
    Tony sprach weiter, als sei nichts geschehen. »Ich habe recht, nicht wahr? Die Stimme ist nicht mehr Ihre Stimme. Sie können also ruhig reden.«
    Ein Pfleger in weißer Uniform erschien im Flur. Tony sah, dass Aidan Hart hinter ihm stand. Tyler wartete demütig an der Tür.
    »Was ist passiert?«, fragte der Pfleger.
    Tony lächelte. »Ich glaube, Derek möchte gehen und über das nachdenken, was ich ihm gesagt habe, stimmt’s Derek?«
    »Mit Ihnen ist alles in Ordnung, Doc, oder?«
    »Ja, alles klar. Gut in Form und gut bei Stimme.«
    Der Pfleger blickte von Tony zu Tyler und wieder zurück und begriff nicht, was da vor sich ging. »Also, dann kommen Sie, Derek, wir bringen Sie in den Tagesraum runter.« Der Pfleger fasste Tyler leicht am Arm.
    An der Tür drehte sich Tyler um und klang ganz heiser, weil er schon so lange nicht mehr gesprochen hatte: »Sie sind nicht die Stimme. Sie könnten nie die Stimme sein.«
    Aidan Hart fiel die Kinnlade herunter. Sprachlos verfolgte er, wie Tyler mit hoch erhobenem Kopf, die schmalen Schultern gestrafft, den Flur entlangging. Tony erhob sich und stellte den Stuhl zurück. »Na ja, das ist ein Anfang«, sagte er gut gelaunt und schritt in flottem Tempo an seinem neuen Chef vorbei.

    Stan’s Café stand in keinem von Bradfields Touristenführern. Selbst auf den Indie-Seiten im Internet, die sich damit brüsteten, ihren Lesern einen authentischen Eindruck zu vermitteln, der sonst nur Einheimischen zuteil wurde, schreckte man vor einer Kneipe zurück, die hauptsächlich von Nutten, Strichjungen, Obdachlosen und Drogendealern frequentiert wurde. Anders als bei manchen schäbigen Spelunken, die es schafften, in die alternativen Stadtführer aufgenommen zu werden, ging auch niemand wegen des Essens zu Stan’s. Der Kundenstamm kam zu Stan’s, weil man dort vor Kälte und Regen geschützt war. Als sich Temple Fields in den neunziger Jahren in das glitzernde Gay Village verwandelte, waren die Besitzer der Bars wählerischer geworden und ließen nicht jeden in ihre Etablissements, besonders wenn es Kunden waren, die es schafften, sich stundenlang an einem kleinen Glas Bier festzuhalten. Der einzige Nutznießer dieser strengeren Sitten war Stan’s. Fat Bobby, dem Besitzer, war es egal, wer auf den aufgeplatzten, klebrigen Plastikpolstern saß, wenn sie nur Essen, Getränke und Zigaretten von ihm kauften.
    An diesem Morgen war ein halbes Dutzend Tische besetzt. Zwei junge Männer asiatischer Herkunft saßen vor ihren Eiern mit Toast, eine samtbezogene Leiste mit geklauten Uhren lag halb verdeckt zwischen ihnen. Offensichtlich waren sie Brüder, denn sie hatten die

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