Toedliche Wut
unbewegt.
Goddard stellt uns vor und sagt, von welcher Behörde wir kommen. »Sie sollen uns helfen, Annie zu finden, Mr King. Und dazu wollten wir Sie und Ihre Frau bitten, uns ein paar Fragen zu beantworten.«
Kings Blick heftet sich auf mich. Ich weiß nicht, ob er meinen Nachnamen als typisch amisch identifiziert hat oder ob ich ihn einfach nur interessiere, weil ich aus Holmes County komme. Doch er spricht mich nicht an, sondern fragt Goddard: »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«
»Wir glauben, wir haben ihre Tasche gefunden«, sagt der Sheriff.
King wird von einem Zittern erfasst, als würden sich Hoffnung und Schrecken in seinem Inneren bekriegen. »Wo?«
»Ein paar Meilen vom Gemüsestand entfernt«, antwortet Goddard. »Und Sie, haben Sie schon etwas gehört?«
Der Mann lässt die Schultern hängen und schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er und bedeutet uns hereinzukommen.
Wir betreten einen Vorraum mit verkratztem Holzboden und zwei gardinenlosen Fenstern, durch die viel Licht fällt. An der Wand hängen ordentlich aufgereiht sechs Strohhüte, verdreckte Arbeitsstiefel stehen nebeneinander auf einem selbstgemachten Teppich. Die uralte Wäschemangel in der Ecke riecht nach Seife und Schimmel.
King führt uns in eine große Wohnküche, wo mir der Geruch von Brot, gebratenem Fleisch und Petroleum wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis beschert wie zuvor. Ein einziges Fenster über der Spüle lässt Tageslicht in den Raum, doch nicht genug, um die Düsternis zu vertreiben. Zwei Laternen werfen gelbes Licht auf die blauweiß karierte Decke des rechteckigen Tisches, der mit leer gegessenen Tellern, Besteck und Wassergläsern bedeckt ist. Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr nachmittags ist, hat die Familie offensichtlich ihr Abendessen schon beendet. In dem Moment entdecke ich das einzige unbenutzte Gedeck: Annies. Es symbolisiert die Hoffnung, dass sie zurückkehren wird. Ihren Glauben, dass Gott sie ihnen wiederbringt, dass ihre Gebete erhört werden. Es ist schon lange her, dass ich einen solchen Glauben besaß, und wahrscheinlich wird auch diese Familie die Erfahrung machen, dass manche Gebete unerhört bleiben, was mich traurig stimmt.
Ein Mädchen, gerade erst ins Teenageralter gekommen, räumt gerade das Geschirr ab und trägt es zur Spüle, wo eine Frau in einem dunkelblauen Kleid mit weißer Schürze und weißer Kapp aus Organdy steht, die Hände im Spülwasser und den Kopf gesenkt. Sie ist so vertieft in ihre Arbeit – oder ihre Gedanken –, dass sie uns erst bemerkt, als ihr Mann sie anspricht.
»Mir hen Englischer bsuch ghadde.« Wir haben englischen Besuch.
Die Frau dreht sich überrascht um. Ich schätze sie auf mindestens zehn Jahre jünger als ihren Mann, und vermutlich war sie einmal wirklich hübsch, doch jetzt ist ihr Gesicht eingefallen – von Kummer gezeichnet. Ich bezweifle, dass sie seit dem Verschwinden ihrer Tochter gegessen oder geschlafen oder auch nur einen Moment Seelenfrieden hatte. Trotz ihres Glaubens nagt die Sorge um ihr Kind an ihr wie eine fleischfressende Bazille, die nicht aufgehalten werden kann.
»Mein Name ist Kate Burkholder«, stelle ich mich vor. »Wir sind hier, um Ihnen bei der Suche nach Annie zu helfen.« Ohne groß nachzudenken, gehe ich quer durch die Küche und halte ihr die Hand hin, bin mir dabei der verwunderten Blicke Goddards und Tomasettis sehr bewusst. »Können wir uns setzen und einen Moment reden?«, frage ich sie auf Pennsylvaniadeutsch.
Die Frau sieht mich ungläubig an, schockiert. Aus reiner Höflichkeit reicht sie mir die Hand, die feucht und schlaff und kalt ist, und ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie zu wärmen. Sie sieht zu ihrem Mann hinüber, in den Augen die Bitte um Erlaubnis, mit mir sprechen zu dürfen, und ich unterdrücke meine Verärgerung darüber. Sein Blick ruht auf mir, und ich starre zurück, wobei mir die Härte – oder das Misstrauen – in seinen Augen nicht entgeht.
Er nickt kaum merklich.
»Ich bin Edna.« Sie hebt den Kopf und sieht mich an. »Sitz dich anne un bleib e weil.« Setzen Sie sich und bleiben Sie einen Moment. »Ich mache einen Kaffee.«
5.
Kapitel
Zehn Minuten später sitzen Edna und Levi King, Tomasetti, Goddard und ich vor dampfenden Kaffeetassen am großen Küchentisch. Ich höre irgendwo im Haus Kinder spielen, das nahe Bellen eines Hundes, das typische piiieh-piiieh eines Blauhähers draußen im Ahornbaum und das entfernte Pfeifen eines Zuges. Die Stimmung ist düster, die bange
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