Toedliche Wut
Vorahnung der Eltern fast greifbar. Ich hoffe, dass keiner von uns ihnen irgendwann mitteilen muss, dass ihre Tochter nicht wieder nach Hause kommt.
Goddard zieht die Umhängetasche vom Straßenrand aus dem Spurensicherungsbeutel und zeigt sie den Eltern. »Können Sie uns sagen, ob die vielleicht Annie gehört?«
Edna starrt die Tasche kurz an und nimmt sie ihm dann aus der Hand. Ihr Mund zittert. »Es ist ihre.« Sie betrachtet sie eingehend, dreht und wendet sie in den Händen, untersucht jeden Zentimeter des Stoffes, als enthielte er die Antworten, die wir so dringend brauchen. Sie blickt auf, sieht vom Sheriff zu Tomasetti zu mir. »Wo haben Sie die gefunden?«
Der Sheriff antwortet. »Auf der County Road 7.«
Ich bin froh, dass er nichts von dem Blut sagt. Solange nicht feststeht, dass es von einem Menschen stammt – oder als das von Annie identifiziert wurde –, gibt es keinen Grund, die Familie mit Informationen zu quälen, die womöglich irrelevant sind.
»Wir beten für ihre gesunde Heimkehr.« Edna schließt die Augen, drückt die Tasche an ihr Herz. »Vielleicht ist das ein Zeichen, dass sie bald zu uns zurückkommt.« Ihr Gesicht fällt zusammen, doch kein Ton kommt aus ihrem Mund. »Annie fehlt uns«, flüstert sie. »Wir machen uns Sorgen. Wir wollen sie wiederhaben.«
Levi starrt den Sheriff an. »Gab es da noch andere Hinweise auf sie?«
Der Sheriff schüttelt den Kopf. »Wir nehmen den Fundort genau unter die Lupe.«
Ich höre ein Geräusch an der Tür und wende den Kopf, sehe ein kleines amisches Mädchen hinter dem Türrahmen hervorlugen. Ihr blaues Kleid sieht aus, als hätte sie es von ihrer älteren Schwester geerbt, ihre nackten Füße sind schmal, gebräunt und schmutzig.
Levi hebt die Hand und zeigt nach draußen. »Ruthie, geh und hilf deiner Schwester im Garten.« Er spricht mit fester Stimme, doch der traurige Unterton sagt mir, dass es ihm kaum um die Arbeit im Garten geht – er will nicht, dass sie das Gespräch mit anhört.
Das Mädchen beäugt uns noch einen Moment misstrauisch, dann läuft es weg, wobei ihre nackten Füße auf den Eichenboden klatschen.
»Wie viele Kinder haben Sie, Mrs King?«, fragt Tomasetti.
»Acht«, erwidert Edna. »Gott hat uns mit vier Mädchen und vier Jungen gesegnet.«
Wie nebenbei hole ich meinen Notizblock hervor. »Und wie alt sind sie?«
»David ist unser Jüngster. Er ist drei.« Ein freudloses Lachen entweicht ihrem Mund. »Ich glaube, Sie haben ihn kennengelernt, als er Ihnen die Tür aufgemacht hat. Gegenüber Fremden ist er schüchtern, bei Englischen ganz besonders. Annie ist die Älteste.« Ihre Stimme versagt, doch nach einem Moment spricht sie weiter. »Sie ist fünfzehn … Lydia ist dreizehn …« Sie lässt die Worte gedankenverloren ausklingen, als gäbe es zu viele Kinder, um sie alle aufzuzählen. »Sie machen sich Sorgen um ihre Schwester.«
»Wann genau haben Sie gemerkt, dass Annie verschwunden ist?«, frage ich.
Die Frau wirft ihrem Mann einen kurzen Blick zu, sieht dann auf ihre geröteten, rissigen Hände mit Fingernägeln, die bis zum Nagelbett abgekaut sind. »Gestern Nachmittag. Wir haben sie einkaufen geschickt, Mais und Tomaten. Sie wird manchmal unruhig … sie ist in dem Alter.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Vor dem Abendessen.« Sie blickt geistesabwesend auf die alte Kaminuhr im Regal neben der Tür. »So um zwei, denke ich.«
»War sie zu Fuß?«
»Ja. Sie läuft gern.«
»Wann haben Sie angefangen, sich Sorgen zu machen?«
Sie blickt ihren Mann an, als fiele ihr die Antwort zu schwer, und er sagt: »Wir haben angefangen, uns Sorgen zu machen, als sie nicht rechtzeitig zum Tischgebet vor dem Abendessen zu Hause war.«
»Die Annie isst doch so gern.« Ednas Lachen klingt wie ein Seufzer.
»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragt Tomasetti.
»Ich habe natürlich nach ihr gesucht«, erwidert Levi.
»Allein?«
»Mein Sohn und ich haben den Buggy genommen.« Er schüttelt den Kopf. »Wir sind die Straße entlanggefahren, die sie hätte gehen müssen, aber sie war weit und breit nicht zu sehen. Wir haben mit Amos Yoder gesprochen, dem der Gemüsestand gehört, und er hat gesagt, sie sei schon vor einer ganzen Weile da gewesen und dass es ihr anscheinend gutging.«
Ich sehe Goddard an. »Liegt der Straßenabschnitt, an dem wir die Umhängetasche gefunden haben, zwischen hier und dem Gemüsestand?«
Goddard schüttelt den Kopf. »Nein.«
Niemand spricht es aus, aber das bedeutet, dass
Weitere Kostenlose Bücher