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Toedliche Wut

Toedliche Wut

Titel: Toedliche Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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Er verzieht das Gesicht. »Ich hab sie ein paarmal gesehen, hübsches Ding.«
    Auch ich kann sie vor mir sehen, ein schlankes Mädchen mit rauen Arbeitshänden, schlicht gekleidet. Vertrauensselig. Bei ihrem Gewicht leicht zu überwältigen, leicht unter Kontrolle zu bringen. Ich ziehe meinen eigenen Block hervor und notiere die Informationen. »Wissen Sie, was sie anhatte?«
    »Blaues Kleid und weiße Schürze. Schwarze Schuhe. Eine von diesen Hauben auf dem Kopf.«
    »Eine Kapp «, kläre ich ihn auf.
    Er wirft mir einen Ja-was-auch-immer-Blick zu.
    »Hat sie einen Freund?«
    »Wenn ich ehrlich sein soll, Chief Burkholder, waren die Eltern nicht gerade mitteilsam, was das Privatleben des Mädchens angeht. Als ich danach fragte, machten sie zu wie eine Auster. Es war ihnen sichtlich unangenehm, mit mir zu reden.« Er räuspert sich. »Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht mitfahren und es noch einmal versuchen.«
    »Kein Problem«, sage ich.
    »Die Spurensicherung ist unterwegs«, ertönt Tomasettis Stimme, und wir drehen uns zu ihm um.
    Er bleibt vor uns stehen. »In etwa einer Stunde müssten sie hier sein.«
    »Wir sollten mit den Eltern sprechen«, sage ich ihm.
    »Sehe ich auch so.« Er wendet sich an Goddard. »Haben Sie genug Leute, um den Tatort zu bewachen?«
    »Mein Deputy kann hierbleiben, bis die Leute von der Spurensicherung eintreffen.« Er macht sich auf zu dem jungen Officer.
    Tomasetti und ich gehen zum Tahoe. »Was glaubst du?«, frage ich ihn, als wir einsteigen.
    Er runzelt die Stirn. »Ich glaube, das Blut ist ein verdammt schlechtes Zeichen.«
    Das glaube ich auch, behalte es aber für mich.
    * * *
    Zehn Minuten später biegen wir in eine kurvenreiche unbefestigte Straße. Sie ist auf beiden Seiten von Maisfeldern gesäumt, deren schulterhohe Stängel wie Luftspiegelungen in der Nachmittagssonne flimmern. Entlang eines Maschendrahtzauns an der Nordseite reihen sich Himbeersträucher. Vor uns fährt Sheriff Goddard im Streifenwagen, wirbelt weißen Staub mit winzigen Steinchen auf, die sanft klirrend gegen Tomasettis Kühlergrill fliegen.
    Nach einer Viertelmeile öffnet sich der Weg zu einem großen Platz, und zwei massive, mit weiß abgesetzte rote Scheunen kommen ins Blickfeld. Geradeaus stehen mehrere kleine Nebengebäude, eine alte Außentoilette und ein rostiger Wellblechschuppen, linker Hand ein weißes Farmhaus mit hohen, schmalen Fenstern und grünem Blechdach. Wie so manches andere Haus in diesem Teil des Landes, wird es über die Jahre hinweg schon vieles mit angesehen haben und könnte sicher so manche Geschichte erzählen.
    Jenseits des Hauses überschatten mehrere riesige Ahornbäume einen gepflegten Blumengarten mit prächtigen Pfingstrosen und mannshohem Pampasgras, daran angrenzend bewacht eine mit Strohhut und Hosenträgern bekleidete Vogelscheuche üppige Erdbeer- und Bohnenbeete. Ein amisches Mädchen in einem hellbraunen Kleid lässt seine Hacke ruhen und beobachtet uns.
    Auf dem College habe ich mal in einem Buch gelesen, dass Erinnerungen, die von Sinneswahrnehmungen geweckt werden, ganz leicht Flashbacks auslösen können. Der Anblick der Farm, in Verbindung mit dem Geruch nach Vieh und Pferden und mit den Sommerdüften, hat genau diesen Effekt. Denn die Farm hier gleicht jener, auf der ich aufgewachsen bin, auf geradezu unheimliche Weise, und für einen Moment werde ich in meine Vergangenheit katapultiert: Ich sehe meine Mamm , wie sie, eine Wäscheklammer im Mund, Hosen und Kleider auf die Leine hängt. In dem Feld hinter der Scheune treibt mein Bruder Jacob unser Pferdegespann an, während mein Datt und ein Nachbarjunge Heu schneiden und bündeln. Ich erinnere mich genau, wie frustriert ich war, weil ich im Haus bleiben und Fußböden schrubben musste, wo ich doch nichts lieber getan hätte, als draußen auf dem Rücken eines der Pferde zu sitzen.
    Es war eine glückliche, unschuldige Zeit, und obwohl dieses Leben auch Schattenseiten hatte, rufen die Erinnerungen doch eine beklemmende Sehnsucht in mir hervor. Das heißt aber nicht, dass ich wieder amisch sein möchte, noch will ich meine Jugend oder die Vergangenheit zurückhaben. Doch wenn ich an die Zeit denke, gehen mir immer all jene Dinge durch den Kopf, die unerledigt geblieben sind. Was im Wesentlichen daran lag, dass meine Kindheit ein abruptes, vorzeitiges Ende fand. Es gibt so vieles, was ich meiner Familie nie gesagt habe. Doch ich habe mit meinen dreiunddreißig Jahren eines gelernt, nämlich dass man

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