Toedliche Wut
ganzen selbstgerechten Getue.«
»Das hat sie dir gesagt?«
»Ständig. Die haben immer nur an ihr rumgemeckert und ihr gesagt, was sie tun soll und was nicht. Sie hat keine Freiheiten und kann nichts machen, ohne dass einer von denen mit seinem selbstgerechten Finger auf sie zeigt.« Mir entgeht nicht, dass er in der Gegenwartsform von ihr spricht. »Ich bin froh, dass sie endlich da weg ist, und freue mich für sie.«
»Wie gut kennt ihr euch?«, frage ich.
»Wir sind Freunde, na ja, dicke Freunde.«
»Wo ihr doch so dicke miteinander seid, hat es dich da nicht gestört, dass sie ohne Abschied weg ist?«, frage ich.
Der Junge sieht zu Boden, und ich stelle überrascht fest, dass die Frage einen wunden Punkt berührt hat, der ihm unangenehm ist. »Ist ja ein freies Land. Ich hab ihr immer gesagt, wenn sie die Gelegenheit hat, soll sie sie nutzen.« Er lacht. »Ich hab immer gedacht, ich würde als Erster von hier abhauen.«
»Hat sie gesagt, wo sie hinwollte?«, fragt Tomasetti.
Er denkt einen Moment nach. »Wir haben immer von Florida geredet. Sie hasst die Kälte hier und hat noch nie das Meer gesehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach so weg ist, ohne Wohnung und ohne Job in Aussicht.«
»Ihre Eltern machen sich Sorgen«, sage ich.
»Die hätten sie einfach mal besser behandeln sollen«, schießt er zurück.
»Wir glauben, dass sie in Schwierigkeiten steckt«, sagt Goddard.
»Dass ihr jemand … was getan hat?«, fragt er, die Augen ungläubig zusammengekniffen.
»Genau das meinen wir.« Tomasetti sieht ihn scharf an. »Weißt du irgendwas davon?«
»Was? Sie glauben, ich hab ihr was getan?«
»Bist du ihr gegenüber mal ausgerastet?«, will Tomasetti wissen. »Hast du sie mal geschlagen?«
Trina Treece schießt erstaunlich anmutig vom Sofa hoch. »Was is’n das für ’ne Frage?«
»Eine zum Beantworten«, sagt Tomasetti, den Blick weiter auf den Jungen geheftet.
Justin hält ihm stand. »Ich hab sie nie angefasst«, antwortet er.
»Hast du ihr ein Handy gekauft?«, fragt Goddard.
»Ihre Eltern haben sich geweigert, also hab ich ihr eins gekauft. Vor ein paar Tagen war das noch nicht strafbar.«
»Hat sie es benutzt?«, frage ich.
»Klar. Wir haben die ganze Zeit miteinander telefoniert.«
»Wann hast du das letzte Mal von ihr gehört?«, will Tomasetti wissen.
»Keine Ahnung. Vor ein paar Tagen.«
»Hast du in den letzten vierundzwanzig Stunden versucht, sie zu erreichen?«
Justin nickt. »Kriege aber immer sofort die Voicemail.«
»Das kam dir nicht komisch vor?«, fragt Goddard.
»He, so ist sie eben. Unabhängig, okay?« Er zuckt die Schultern. »Ich dachte, sie wird mich schon anrufen, wenn sie da angekommen ist, wo sie hinwill.«
Tomasetti holt seinen Notizblock hervor. »Wie ist die Nummer?«
Justin rasselt sie auswendig runter, und Tomasetti schreibt mit.
»Hast du dein Handy dabei?«, fragt er.
»Sicher, ich –« Der Junge sieht ihn misstrauisch an. »Warum?«
»Weil ich es mitnehmen werde.« Tomasetti hält die Hand hin. »Gib’s mir.«
Justin würde sich gern weigern, denn es fällt ihm offensichtlich schwer, die Hand in die Tasche zu stecken und es rauszuholen. Doch irgendetwas muss er in Tomasettis Augen erkannt haben, denn einen Moment später hält er es in der Hand. »Das hat ’ne Menge Geld gekostet.«
»Wir wollen nur sehen, ob wir damit die Zeit ihres Verschwindens eingrenzen können.« Er holt einen Spurensicherungsbeutel aus der Tasche, und der Junge lässt das Telefon reinfallen. »Du kriegst es wieder.«
Justin glaubt ihm nicht, guckt weg. »Sicher.«
»Weißt du, Justin, es hätte geholfen, wenn du sofort zu uns gekommen wärst, als sie verschwunden ist«, sagt Goddard.
»Ist das offiziell?« Treece sieht von Goddard zu mir zu Tomasetti. »Ich meine, dass sie vermisst wird.«
»Ihre Eltern haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, erkläre ich ihm.
»Ich bin davon ausgegangen, dass es ihr gutgeht«, sagt der Junge. »Woher sollte ich das wissen?«
»Du hättest ja mal das Ding zwischen deinen Ohren benutzen können«, sagt Tomasetti.
Der Junge bedenkt ihn mit einem Leck-mich-Blick.
»Hat sie irgendwelche anderen Freunde, mit denen sie zusammen weggegangen sein könnte?«, fragt Goddard.
Justin schüttelt den Kopf. »Die meisten ihrer Freunde sind amisch.«
»Hat sie irgendeine Fahrgelegenheit gehabt?«, frage ich.
Noch ein Kopfschütteln. »Davon weiß ich nichts. Ein Auto konnte sie sich nicht leisten.« Er lacht
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