Toedliche Wut
hat?«
»Ich biete ihm eine Unterkunft an. Leihe ihm nötigenfalls Geld. Berate ihn.« Stoltzfus redet gern, und er fasst langsam Vertrauen zu uns. »Es ist schwerer, als sich die meisten Menschen das vorstellen. Ich meine, zu gehen. Für Amische ist die Familie alles, müssen Sie wissen, das ganze Universum sozusagen. Viele junge Leute wollen gehen, tun es aber der Familie zuliebe nicht. Ich biete ihnen einen neutralen Ort, wo sie bleiben können, ich urteile nicht über sie und übe nicht so einen Druck aus wie ihre Familien oder die Kirchenältesten.«
»Dann sind Sie Mennonit?«
Er nickt. »Die religiösen Glaubensgrundsätze ähneln sich, aber man muss bei den Mennoniten nicht leben wie im 18. Jahrhundert.«
Das lasse ich so stehen, übergebe mit einem Blick an Tomasetti. »Was können Sie uns über Noah Mast sagen?«, fragt er.
Augenblicklich verliert Stoltzfus alle Gelassenheit, und sein linkes Augenlid beginnt zu zucken. »Ich habe ihn kaum gekannt. Noah war ein paar Jahre jünger als ich, aber wir sind uns ab und zu begegnet. Nachdem ich gegangen war, hatte er Kontakt mit mir aufgenommen und gesagt, er wolle auch weg. Wollte wissen, wie man das macht.«
»Haben Sie ihm geholfen?«
»Das hätte ich gemacht, aber ich habe dann nie wieder von ihm gehört.«
»Hatten Sie zu der Zeit schon andere amische Jugendliche dabei unterstützt, das schlichte Leben aufzugeben?«
»Einigen wenigen hatte ich geholfen, aber das war alles noch nicht so organisiert wie jetzt. Das Weggehen war so schwer für mich gewesen … Ich hatte das Gefühl, ich müsste anderen helfen.«
»Was können Sie uns sonst noch über Noah sagen?« Tomasettis Stimme ist freundlich, doch sein Blick bohrend.
»Ich weiß nur noch, dass er raus wollte, und wenn ich mich recht erinnere, verstand er sich mit seiner Familie nicht so gut. Ich hatte ihm meine Hilfe angeboten.« Stoltzfus zuckt mit den Schultern. »Und dann hörte ich plötzlich, dass er vermisst wird.«
»Hat Sie das überrascht?«
»Eigentlich nicht. Ich dachte, dass er es ohne meine Hilfe durchgezogen hat.«
»Kennen Sie Annie King?«, fragt Tomasetti.
Stoltzfus reißt die Augen auf, als wäre ihm gerade klargeworden, dass er in einem Löwenkäfig gelandet ist, dessen Fluchtwege blockiert sind. »Sie glauben doch nicht etwa, dass ich damit was zu tun habe?«
»Haben Sie sie gekannt?«, fragt Tomasetti erneut.
»Nein.«
»Hatten Sie in irgendeiner Form Kontakt zu ihr?«
»Nein!«
»Sie ist nicht zu Ihnen gekommen? Wollte keine Hilfe?«
»Hören Sie. Ich bin ihr nie begegnet, ich hab nie mit ihr gesprochen. Das ist die Wahrheit.«
9.
Kapitel
»Er ist entweder ein verdammt guter Lügner, oder er sagt die Wahrheit«, erklärt Tomasetti, als er auf den Highway fährt, an dem unser Motel liegt.
»Ich glaube ihm«, sage ich. »Zumindest was Noah Mast betrifft.«
»Er kam mir ziemlich nervös vor.«
»Du warst auch ziemlich bissig.«
»Ich war nicht bissig.« Doch im schwachen Licht des Armaturenbretts sehe ich, wie seine Mundwinkel hochgehen.
Ich blicke aus dem Fenster, spüre die sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf. »Irgendwie kommt keiner so richtig als Täter in Frage.«
»Bis wir jemanden finden, bei dem das anders ist, müssen wir das Standardprogramm durchziehen.« Er sieht mich von der Seite an. »Hast du Hunger? Es gibt ein Restaurant nicht weit weg vom Motel.«
»Hab ich auch gesehen. Das Flying Buck .« Seit letzter Nacht habe ich nichts gegessen und bin am Verhungern. »Aber es ist eine Bar, Tomasetti, kein Restaurant.«
»Da die Auswahl an Restaurants hier beschränkt ist, könnten wir uns Bier und Burger genehmigen, ohne gegen allzu viele Regeln zu verstoßen.«
»Aber nichts Hochprozentiges.«
»Das wäre sicher ganz im Sinne unserer Bosse.«
Es ist fast zweiundzwanzig Uhr, als wir auf den Parkplatz vom Flying Buck fahren. Im Scheinwerferlicht taucht nur ein einziges Fahrzeug auf, ein Toyota Camry, der aussieht, als wäre er frisch gewachst. Das Gebäude selbst ist ein in grüner Tarnfarbe gestrichenes riesiges Mobilhaus mit einem Wandgemälde, das eine Jagdszene zeigt: zwei durch einen Fluss springende Labradore und zwei Jäger in orangefarbenen Westen, die Gewehre schussbereit.
Wir gehen zur überdachten Veranda, auf der ein paar Tische stehen, wo man im Sommer draußen essen kann, und betreten die Bar durch eine schwere Holztür, über der mehrere Zwölfender-Geweihe hängen. Drinnen ist es düster, und es riecht wie in all den anderen
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